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Einige grundsätzliche Gedanken zur Wissenschaft

Laut dem antiken Philosophiehistoriker Diogenes Laertios galt dem Philosophen Herillos von Chalkedon als oberstes Ziel des Lebens (telos) das Streben nach Wissen (episteme). Wie seine Lehre im Detail aussah, ist nicht überliefert; dennoch wollen wir seinen Grundsatz zum Ausgangspunkt einiger Überlegungen zu Wissenschaft und ihrem Sinn und Gehalt sowie ihrer Rechtfertigung vor der Gesellschaft machen. Dabei soll hier der Begriff der Wissenschaft in einem etwas weiteren Sinne als gewöhnlich verstanden sein: Gemeint sei damit nicht nur das Schaffen neuen Wissens, also die Forschung, sondern auch das Sammeln, Archivieren, Lehren, Aufnehmen, Tradieren von Wissen.

Ungeheuer ist ohne Zweifel die Menge an (überindividuellem) Wissen, das die Menschheit in ihrer Geschichte, vor allem den letzten paar Jahrhunderten, aufgehäuft hat; ja es macht schon Mühe, es auch nur zu umreißen: die Ergebnisse all der unzähligen Geistes-, Natur- und Gesellschaftswissenschaften, der Mathematik, all die technischen Kenntnisse, all das enzyklopädische Wissen, sie übersteigen bei weitem das Vorstellungsvermögen eines Einzelnen. Im Prinzip wollen wir in dieser Erörterung keinen Unterschied zwischen all diesen Wissens- und zugehörigen Wissenschaftsbereichen machen, sondern sie allesamt als gleichberechtigt und grundsätzlich gleichwertig betrachten. Doch ist es für den Gang der Argumentation zweckmäßig, speziell auf eine Art von Wissenschaft das Augenmerk zu richten, die insofern die kritische ist, als bei ihrer Betrachtung die ganze Diskussion um Sinn und Gehalt der Wissenschaft sich unmittelbar aufdrängt und zudem eine ungemein größere Brisanz gewinnt. Es handelt sich dabei um diejenige Wissenschaft, die man ganz naiv, im Sinne der Alltagssprache, zunächst einmal ohne den Begriff zu hinterfragen, als „nutzlos” bezeichnen kann, die also nicht zum allgemeinen materiellen oder geistigen Wohlergehen beiträgt. Denn die „nützliche” Wissenschaft, also die Tradierung und Schaffung von Wissen, das für den Einzelnen oder die Gesellschaft „von Nutzen” ist, wird ja, was fast schon einer Tautologie nahekommt, in der Regel nicht in Frage gestellt, außer vielleicht bisweilen aus ideologischen Gründen. Natürlich wird der Begriff der „Nützlichkeit” oder auch der „Sinnhaftigkeit” in diesem Kontext noch zu diskutieren sein; doch sei diese Diskussion zunächst hintangestellt. Stattdessen wollen wir uns zuerst der Phänomenologie der „nutzlosen” Wissenschaft widmen, dabei zunächst bei der obigen, naiven Definition von Nutzlosigkeit stehenbleibend.

Gibt es denn überhaupt nutzlose Wissenschaft in diesem Sinne? Natürlich trägt alle Grundlagenforschung (und -lehre) nicht unmittelbar zum allgemeinen Wohlergehen bei, aber tut sie dies nicht häufig auf indirektem Wege oder aber hat das Potential, zu irgendeinem späteren Zeitpunkt auf eine Weise, die man sich zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht vorstellen kann, von Nutzen zu sein? Doch gänzlich kommt man mit diesem Argument um die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Grundlagenforschung nicht herum. Es nimmt ihr ohne Zweifel einiges von ihrer Schärfe, aber vollständig aus dem Weg räumen kann es sie nicht. Natürlich muss man sich vor apodiktischen Aussagen hüten, eine bestimmte nichtangewandte Wissenschaft werde niemals auch nur irgendwie von Nutzen sein; berühmt ist das Beispiel des englischen Mathematikers G. H. Hardy, der die Zahlentheorie dafür rühmte, ganz und gar nutzlos zu sein, die aber später dann eine wichtige Rolle in der Kryptographie spielen sollte. Auch kann man oft nur schwer die verschlungenen Pfade überblicken, auf denen eine vordergründig nutzlose Wissenschaft in sehr subtiler, indirekter Weise einen Mehrwert für die Gesellschaft hat. Verstehen wir nicht beispielsweise durch die Beschäftigung mit der Geschichte die Gegenwart besser und lernen daraus für die Zukunft? Aber dass sich ein wie auch immer gearteter Nutzen nie mit letzter Gewissheit ausschließen lässt, heißt ja noch lange nicht, dass sich das Betreiben jedweder Wissenschaft von einem utilitaristischen Standpunkt aus rechtfertigen ließe, denn auf der Gegenseite steht ja der zuweilen nicht unbeträchtliche Aufwand an Ressourcen, der für die Wissenschaft aufgewendet werden muss. Zumindest eine grobe Abschätzung, ob der Nutzen, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, dass er denn tatsächlich eintritt, den Aufwand übersteigt, wird doch wohl in vielen, wenn auch natürlich nicht allen Fällen möglich sein. Und wir sind der Meinung, dass die Zahl der Wissenschaften, bei denen selbst eine sehr konservative Abschätzung zu dem Schluss kommen sollte, dass sie sich utilitaristisch schwer bis gar nicht rechtfertigen lassen, durchaus beträchtlich ist.

Hierbei ist es zweckmäßig, die beiden größten Wissenschaftsbereiche, die man allgemein Naturwissenschaften (hier unter Einbeziehung der Mathematik) und Geisteswissenschaften nennt, getrennt zu betrachten. Grundlagenforschung in den ersteren gehört häufig, jedoch nicht immer, zu derjenigen Klasse von „nutzloser“ Forschung, die mit ihrem Potential für eine spätere Anwendbarkeit rechtfertigt wird, wohingegen dies bei der Forschung in den letzteren eher mit dem indirekten positiven Einfluss auf die Gesellschaft geschieht. Besonders in den Geisteswissenschaften jedoch kann man äußerst leicht Wissenschaftsgebiete ausmachen, bei denen eine positive Wirkung auf das allgemeine Wohlergehen nahezu ausgeschlossen ist oder in keinem Verhältnis zum nötigen Aufwand steht. Eine technische oder praktische Anwendung ist hier meist von vornherein unmöglich, und auch ein indirekter Nutzen für die Gesellschaft ist praktisch nicht vorhanden, ja die Gesellschaft nimmt in den meisten Fällen nicht einmal irgendeine Notiz von solcher Forschung (was freilich noch nicht ihre Nutzlosigkeit beweist). Nehmen wir beispielsweise einmal, um mit einem sehr einfachen Fall zu beginnen, die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, deren Ergebnisse ohne Zweifel höchst interessant und reichhaltig sind und die wie nur wenige andere Wissenschaften das Erlebnis einer unmittelbaren Einsicht bietet. Aber ein Nutzen für die Gesellschaft? Direkte Anwendungen sind uns nicht bekannt (dafür ist es ja viel wichtiger, die heutigen Ausprägungen der Sprachen statt ihre historische Entwicklungen zu studieren), aber auch ein indirekter Nutzen ist nur schwer vorstellbar: Höchstens ist die Etymologie von Wörtern der eigenen Muttersprache ein interessantes Kuriosum für Laien. Oder nehmen wir historische Forschung zu Mittelalter und Antike: Natürlich ist diese hoch interessant, weil sie uns eine ganz andere Welt als die unsere und deren Gesetzmäßigkeiten vor Augen führt, uns die historischen Dimensionen aufzeigt und uns einige Aspekte der heutigen Welt erklärt; und tatsächlich nehmen sie wohl, oft populärwissenschaftlich aufbereitet, durchaus auch Menschen außerhalb der Fachwelt zur Kenntnis. Aber wären für das, was man ihr an allgemeinem Nutzen zuschreiben könnte – zum einen eine Unterhaltung und Bildung der Laien durch ihre aufbereiteten Ergebnisse, zum anderen Erkenntnisse über generelle Wirkprinzipien historischer Prozesse und damit ein Nutzen für die aktuelle politische Entscheidungsfindung –, wirklich all die historischen Studien mit ihren doch häufig sehr speziellen, epochegebundenen Fragestellungen nötig? Könnte man zum Beispiel nicht viel mehr für die politische Entscheidungsfindung lernen, indem man sich statt mit Antike und Mittelalter mit unserer jüngsten Vergangenheit befasste oder aber gleich Sozial- und Politikwissenschaft betriebe? Oder schauen wir uns schließlich die Philosophie selbst an, deren Wichtigkeit hervorzuheben sich wohl völlig erübrigt. Vielleicht könnte man noch der Ethik eine gewisse Nützlichkeit zuschreiben, obwohl es, wie Schopenhauer bemerkt, ebenso töricht ist zu glauben, dass die Moralphilosophie zu einer moralischen Besserung der Menschen beiträgt, wie dass die philosophische Ästhetik Literaten, Künstler und Musiker hervorbringt; was aber ist mit dem Herzstück der Philosophie, Metaphysik und Erkenntnistheorie? Sie mögen von noch so existenzieller Bedeutung sein, einen konkreten Nutzen kann man sich noch viel schwieriger vorstellen als bei den bisher genannten Beispielen.

Die drei Beispiele der historischen Sprachwissenschaft, der alten Geschichte und der Philosophie sind mit Absicht gewählt, weil die „Nutzlosigkeit“ bei ihnen unserer Meinung nach besonders augenfällig ist; was aber nicht heißen soll, dass es um andere Geisteswissenschaften in dieser Hinsicht sehr viel besser stünde.

Schauen wir uns nun die Naturwissenschaften an, denen gegenüber natürlich viel seltener der Vorwurf der Nutzlosigkeit erhoben wird, in Anbetracht der unermesslichen Menge an technischen Anwendungen, die sie hervorgebracht oder ermöglicht haben. Als ganzes sind sie tatsächlich der Inbegriff der Nützlichkeit; jedoch eben nur als ganzes. Denn diese Betrachtung als zusammenhängender Komplex verdeckt oft, dass es eben doch eine Reihe von naturwissenschaftlichen Disziplinen gibt, die den geisteswissenschaftlichen an praktischer Nutzlosigkeit in nichts nachstehen. Was ist zum Beispiel mit Paläontologie oder Astronomie? Man kann in nahezu jeder Naturwissenschaft Forschungszweige finden, bei denen eine praktische Anwendbarkeit extrem unwahrscheinlich oder wenn überhaupt erst in sehr ferner Zukunft möglich ist (das letztere eröffnet eine interessante Nebendiskussion, die hier aber ausgelassen sei: nämlich ob wir etwas als nützlich betrachten sollten, das uns selbst nie zugute kommen wird, sondern nur unseren entfernten Nachfahren). Ein gutes Beispiel ist die gesamte Forschung in fundamentaler Physik, wie Teilchenphysik, Kosmologie und die Suche nach einer Theorie der Quantengravitation, die von höchstem Interesse sind, weil sie die allergrundlegendsten Gesetzmäßigkeiten unserer Welt offenlegen, einen Nutzen aber wohl kaum haben. Wie gesagt, man kann es nicht mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass auch diese sehr fundamentale Physik eines Tages eine praktische Anwendung erfährt, aber im Moment sieht es doch sehr danach aus, dass wir für alle Bereiche der Wirklichkeit, in denen eine technische Anwendung möglich ist, schon die fundamentale physikalische Theorie kennen, für jene also „nur“ die Erforschung der daraus emergenten Strukturen von Bedeutung ist. Ja wir sind im Gegenteil sogar der Anwendung einen Schritt voraus, haben doch die grundlegendsten Theorien, die wir im Moment besitzen, das Standardmodell der Teilchenphysik und die Allgemeine Relativitätstheorie, bisher fast keine technischen Anwendungen. Stellt man tatsächlich einmal unmittelbar die Frage nach der Sinnhaftigkeit solcher Forschung, so erhält man häufig eine „wissenschaftsimmanente“ Antwort, etwa „Die genauere Analyse des Hadronenspektrums ist deshalb wichtig, weil man dadurch die Quantenchromodynamik besser verstehen kann.“

Es ist dabei gar nicht unwahrscheinlich, dass wir womöglich mit dem einen oder anderen angeführten Beispiel eines Tages (oder auch schon jetzt) ähnlich dastehen wie Hardy. Aber das ist gar nicht so wichtig, denn in jedem Fall ist wohl klar geworden, dass sich nicht alle Forschung utilitaristisch begründen lässt, dass man davon ausgehen kann, dass sich der Erwartungswert von „Nutzen“ für die Gesellschaft im naiven Sinne mit Sicherheit durch das „intelligente“ Streichen gewisser Forschung erhöhen ließe, mag sich auch bei einem einzelnen Forschungszweig nie ein Nutzen mit letzter Gewissheit ausschließen lassen. Eigentlich ist dies eine triviale Feststellung; es schien aber doch nötig, dies hier einmal so deutlich auszusprechen, da die Wissenschaft als ganzes in der westlichen Gesellschaft geradezu sakrosankt ist und öffentlich sehr selten wegen Nutzlosigkeit angeprangert wird. Das heißt natürlich nicht, dass es die Forschung deshalb nicht schwer hätte, ausreichend finanziert zu werden, denn die Gesellschaft in Form der geldgebenden Stellen lässt es die Wissenschaftler ja durchaus spüren, wenn ihre Forschung sehr weit von praktischem Nutzen entfernt liegt; aber dass sie überhaupt finanziert wird, ist doch schon erstaunlich und sollte rechtfertigt werden. Natürlich lässt sich sehr gut darauf verweisen, dass die Menschheit auch für andere nutzlose oder gar schädliche Zwecke (wie beispielsweise Kriege) einen großen Aufwand betreibt, der sicherlich sogar um ein Vielfaches höher als der für „nutzlose Forschung“ ist. Aber mit dem Verweis auf andere kommt die Wissenschaft um ihre eigene Rechtfertigung nicht herum.

Wir wollen hier den Versuch machen, eine solche Rechtfertigung zu geben. Zwangsläufig wird diese Apologie der Wissenschaft ein wenig pathetisch geraten müssen, wenn die prosaische utilitaristische Rechtfertigung nicht ausreicht, auch womöglich oft gehörten Gemeinplätzen zumindest nahekommen müssen; doch ist sie dadurch ja nicht von vornherein diskreditiert. Wir wollen ausgehen von der Tatsache, dass der Mensch in jeder Hinsicht ein Wesen der Endlichkeit ist. Kaum etwas anderes wird uns immerzu derart bewusst gemacht wie unsere Beschränktheit in jeglicher Hinsicht, sie ist eine Grundkonstante unserer Existenz. Doch teilen wir diese auch mit den Tieren, ja sie ist im Grunde der natürliche Zustand. Was den Menschen aber von den Tieren unterscheidet und tatsächlich ganz und gar außergewöhnlich ist, ist sein rastloses Streben danach, seine Endlichkeit zu übersteigen. Dies kann in verschiedener Weise geschehen; eine der höchsten Formen des Sich-Übersteigens aber ist ohne Zweifel die Wissenschaft, wenn nicht gar die höchste von allen: Ob nun ein Einzelner sich bereits vorhandenes Wissen aneignet oder ob gänzlich neues Wissen durch Forschung geschaffen wird: In beiden Fällen handelt es sich um das Transzendieren einer kleinen, endlichen, beschränkten Welt, im ersten Falle die des Einzelnen, im zweiten die der Menschheit; ein kleines Puzzlestück fügt sich an seine Stelle, ein kleiner Aspekt der so unverständlichen Welt wird verstanden, ein kleines Stückchen erweitert sich der so enge Gesichtskreis. In welch unglaublichem Ausmaße dies in unserer Zeit geschieht, in welch extreme, von seiner gewöhnlichen Lebenswelt unermesslich weit entfernte Gebiete der menschliche Geist vordringt, das wird jedem sofort bewusst, der einen Blick in die Lehrbücher und Fachpublikationen einer der modernen Wissenschaftsdisziplinen wirft. „Was in des Menschen Hirn nicht passt“ – weil es in krasser Weise den Bereich übersteigt, auf den die Evolution sein Gehirn vorbereitet hat –: Das erschließt er sich mithilfe der Wissenschaft eben dennoch und trotzt der Krücke seiner natürlichen Voraussetzungen. Handelt es sich dabei nicht um den Inbegriff des Trans­zendierens?

Von vornherein zum Scheitern verurteilt ist dieser ungeheure Griff des Menschen nach der Aller­kenntnis natürlich gleichwohl. Doch liegt darin nicht etwas ungemein Edles, wenn er gleich dem Ca­musschen Sisyphos unermüdlich und in vollem Bewusstsein der letztendlichen Sinnlosigkeit dieses Unterfangens nach immer weitergehendem, tieferliegendem Wissen strebt? Es ist hier nicht die rich­tige Stelle für eine philosophische Diskussion der Pilatusfrage, aber wenn überhaupt irgendetwas den Anspruch auf Wahrheit erheben kann, so sind es die Früchte dessen, was man allgemein als Wissen­schaft bezeichnet: Das systematische, vernunftgeleitete, im steten Dialog und Disput einer großen Anzahl an Fachleuten stattfindende Forschen, die gründliche Dokumentation des erlangten Wissens, seine stete gewissenhafte Lehre und Weitergabe.

Vor diesem Hintergrund scheint es nachvollziehbar, wie Herillos zu seiner These kam. Auch wenn das antike Wissenschaftsverständnis sich in einigen Aspekten vom heutigen unterschied (und die an­tike Wissenschaft nicht in allem unseren heutigen Ansprüchen genügen kann), so werden vermutlich ähnliche Überlegungen wie die obigen ihn dazu bewogen haben, das Streben nach Wissen zum obersten Ziel des Lebens zu erklären; zumal bekanntermaßen in der griechischen Philosophie die Idee des Wahren traditionell eng mit derjenigen des Guten und des Schönen verknüpft ist, und es so­mit naheliegt, die Wissenschaft als „Weg zur Wahrheit“ ebenfalls in dieses Umfeld zu rücken.

An dieser Stelle unserer Diskussion wird es notwendig (auch wenn es etwas abseits ihres eigentli­chen Themas liegt), die Frage nach dem telos etwas grundsätzlicher untersuchen, womit eng die zu­nächst zurückgestellte Frage zusammenhängt, was man denn nun eigentlich überhaupt als „nützlich“ bezeichnen solle. Am naheliegendsten, ja schon fast tri­vial scheinend ist es gewiss, die Glücklichkeit als oberstes Ziel zu setzen. Sie scheint in derart selbst­verständlicher Weise das Gute zu sein, das Streben nach Glücklichkeit, „the pursuit of happiness“, derart natürlich, dass sich eine Diskussion scheinbar erübrigt, auch weil der Begriff so weit gefasst zu sein scheint, dass er alles vorstellbare Erstrebenswerte mit einschließt. Als Verallgemeinerung auf die Gesellschaft ergibt sich dann als Ziel eine möglichst große Summe an Glücklichkeit (oder besser Ab­wesenheit an Unglücklichkeit, was nicht ganz das Gleiche ist, da gemäß der ersten Formulierung auch eine Erhöhung der Anzahl an Menschen angestrebt werden müsste), womit wir beim Utilitaris­mus angelangt sind, dessen Nützlichkeitsbegriff die Grundlage der bisherigen Untersuchung bildete und welchem gemäß die nichtangewandte Forschung nur schwer zu rechtfertigen wäre. Doch ob­wohl sie als derart einleuchtend erscheint, ist die Setzung der Glücklichkeit als oberstes Ziel nicht un­problematisch und lässt sich hinterfragen. Bezeichnenderweise stand und steht die Glücklichkeit in vielen Kulturen und Epochen nicht an dieser Stelle, die sie heute vielfach in den westlichen Gesell­schaften einnimmt, und dies liegt wohl nicht allein daran, dass für jene ein materielles Wohlergehen wie in diesen ganz außerhalb des Vorstellungshorizonts lag oder liegt. In der Art von Welt, in welcher wir leben, ist nämlich alles Glück zwangsläufig ephemerer Natur und durch und durch vergänglich; es gibt kein letztgültiges Glück, das für immer bestünde. Dem Menschen als alleiniges Ziel seines Lebens vorzugeben, nach Glücklichkeit zu streben, reduziert ihn in gewisser Weise auf den animalischen, in der Begrenztheit verhafteten Teil seines Wesens. Natürlich ist auch alle Wissenschaft letzten Endes vergänglich, doch verhält es sich damit etwas anders: Denn als Akt der „Welterweiterung“ und „Selbstübersteigung“ ist das Streben nach Wissen im Gegensatz zum Streben nach Glück von seinem Wesen her auf die Tran­szendenz ausgerichtet, auch wenn es durch die Endlichkeit des Lebens prinzipiell beschränkt ist.

In Anbetracht dieser Tatsache einerseits und andererseits desjenigen, was wir oben zur Apologie der Wissenschaft vorgebracht haben, ist es sicherlich möglich, das heißt plausibel, statt der Glücklichkeit die Wissenschaft als oberstes Ziel zu setzen. Zwingend ist diese Wahl nicht. Auch sie ist nicht unangreifbar: Denn selbst die Adepten der Wissenschaft, die ihr tatsächlich als höchstem Ziele nachzustreben vorgeben, werden sich nur schwerlich der unmittelbaren Gutheit des Glücklichseins entziehen können. Das Problem hätte man genauso, wenn man beispielsweise die Kunst oder tugendhaftes Verhalten als telos setzte (wobei gerade letzteres eine sehr verbreitete Haltung in der antiken Philosophie war): Die Attraktivität der Glücklichkeit zu verleugnen ist äußerst schwer.

Womöglich war schon Herillos selbst sich dieser Schwierigkeit bewusst. Er lehrte nämlich auch, dass es neben dem höchsten Ziel noch ein untergeordnetes Ziel (hypotelis) gebe. Diesem untergeordneten Ziele würden alle Menschen fol­gen, dem Hauptziel, der Wissenschaft, aber nur die „Weisen“ (sophoi). Auf die Gefahr hin, seine Lehre vollständig zu missinterpretieren, wollen wir mit diesem untergeordneten Ziel das Streben nach Glück­lichkeit identifizieren. Für die Behauptung eines untergeordneten Ziels wurde Herillos von Cicero kritisiert (fast schon seine einzige weitere Erwähnung in der antiken Literatur), der der Meinung war, man könne grundsätzlich nur einem telos treu sein und nicht noch Nebenziele verfolgen. Und tat­sächlich ist der Einwand durchaus berechtigt: Entweder das Nebenziel, so sollte man meinen, ergibt sich aus dem obersten Ziel und wäre damit redundant, oder aber es widerspricht ihm und muss auf­gegeben werden. Wenn das Streben nach Wissen das telos ist, so muss diesem alles andere unterge­ordnet werden, alle verfügbaren Ressourcen inklusive der Zeit müssten nur diesem einen Ziele geop­fert werden, wenn man denn konsequent wäre. Wer aber ist derart konsequent? Vielleicht muss man aber den Ausdruck „oberstes Ziel“ gar nicht so rigoros deuten; vielleicht ist es angebrachter, das „oberste Ziel“ im Sinne eines „letztgültigen Ziels“ aufzufassen. Darunter sei verstanden, dass es zwar gleich einem Leitstern über allem Handeln steht und ihm die größte Wichtigkeit zugestanden wird, im tägli­chen Leben aber das untergeordnete Ziel dominiert. Umso plausibler wird diese Konstruktion, wenn man bedenkt, dass sich das Streben nach Wissen und nach Glück­lichkeit oftmals durchaus gut vereinbaren lassen, indem die Beschäftigung mit der Wissenschaft auch eine große Be­glückung für den Menschen darstellen kann. Konsequent ist sie natürlich trotzdem nicht. Doch selbst so werden ja, wie Herillos trefflich bemerkt, die meisten Menschen, das heißt alle außer den sophoi, überhaupt nur dem untergeordneten Ziele nachstreben, ihre Zahl wird gewiss noch grö­ßer, wenn man ihnen auch noch jene zuschlägt, bei deren Bekenntnis zur Wissenschaft als oberstem Ziel es sich um nicht mehr als ein Lippenbekenntnis handelt. Und eine bessere Rechtfertigung für die Setzung der Wissenschaft als telos wissen wir nicht; alles, was wir konnten, haben wir ins Feld geführt.

Was aber folgt aus all diesen idealistischen, hochtrabenden Überlegungen für die Rolle der Wissen­schaft in der Gesellschaft? Kann man sie überhaupt in die prosaische Wirklichkeit übertragen? Mit dem zuletzt gesagten ist es ja schon angedeutet: Es werden von vornherein die meisten der Wissen­schaft als oberstem Ziel gar nicht nachstreben wollen und können. Wie schon an anderen Stellen, so ist es zur Untersuchung dieser Frage wieder sinnvoll, den in unserer Diskussion derart weit – weiter als im gewöhnlichen Sprachgebrauch – gefassten Begriff der Wissenschaft aufzuspalten: In die Schaffung gänzlich neuen Wissens, d. h. die „Forschung“ oder Wissenschaft im engeren Sinne einer­seits, und die Weitergabe und Aufnahme bestehenden Wissens andererseits. Die Schaffung neuen Wissens ist in der Tat nur sehr wenigen vergönnt: Professoren, wissenschaftlichen Mitarbeitern, Doktoranden an Universitäten und sonstigen Forschungseinrichtungen, Mitgliedern der Forschungs­abteilungen in Unternehmen, schließlich – in eingeschränktem Maße – Privatgelehrten und Hobby­forschern. Die Hürden, um in diesen illustren Kreis zu gelangen, sind vielfältig und hoch: Die einen haben schon aufgrund mangelnder eigener Fähigkeiten keine Möglichkeit dazu, andere sind wegen äußerer Umstände daran gehindert, und schließlich strebt ein riesiger Teil derer, die prinzipiell die Möglichkeit dazu hätten, ein solches Leben gar nicht an, weil er ganz andere Ziele verfolgt. Wenn man nun also allein die Schaffung neuen Wissens zur „eigentlichen“ Wissenschaft erklärte, schlösse man gleichzeitig a priori den Großteil der Menschheit, alle außer jener winzigen Elite, von der Wis­senschaft, die wir aber doch als telos verteidigen wollen, aus. Einem großen Teil davon würde das na­türlich überhaupt nichts ausmachen, da sie der Wissenschaft nicht das Geringste abgewinnen können und ihnen ihre Setzung als telos fern liegt. Doch es lässt sich durchaus behaupten, dass ein – womöglich ebenso großer – Teil derer, die, warum auch immer, nicht in der Forschung tätig sind, grundsätzlich für die Wissen­schaft offen ist. Jeder, der populärwissenschaftliche Dokumentationen schaut oder Artikel liest zu Na­turwissenschaften, Geschichte, Politik etc.; der in Urlaub fährt nicht um der physischen Erholung willen allein, sondern um eine andere Kultur kennenzulernen, historische Stätten, bedeutende Monu­mente oder interessante Naturdenkmäler zu besichtigen (theories heineken, „um der reinen Lust am Schauen willen“, heißt es bei Herodot); der in Schule oder Universität Freude auch an Stoff empfand oder empfindet, der für sein späteres Leben so gut wie keinen Nutzen hat; der aus reinem Interesse Sachbücher liest: Alles dies verrät grundsätzliche Offenheit gegenüber der These von der Wissen­schaft als telos (ohne dass sie auch tatsächlich geteilt werden müsste).

Das Entscheidende ist, dass, wie wohl schon zum Ausdruck gekommen ist, der Unterschied zwischen dem Schaffen von neuem Wissen und dem Aneignen von bestehendem Wissen – zumindest in unserem Zusammenhang – eher geringfügig ist. Der Grund ist, dass – wie schon von vielen be­merkt – jeder Mensch im Grunde eine kleine Welt ist. Wenn man dies akzeptiert, so wird ersichtlich, dass es sich um ähnliche Vorgänge handelt, wenn ein Einzelner sein Wissen erweitert und wenn die Menschheit ihr Wissen erweitert. Natürlich lässt sich einwenden, dass der Mechanismus der beiden Wissenserweiterungen verschieden sei: Im einen Fall muss der Natur oder dem geisteswissenschaftli­chen Kosmos die „Wahrheit“ erst entlockt und abgerungen werden, im anderen handelt es sich um das schlichte Aufnehmen eines äußeren Inputs. Abgesehen davon, dass man sich bereits bestehendes Wissen durchaus auch „forschend“ aneignen kann (und dies in der Praxis auch geschieht), ist der Un­terschied jedoch nicht allzu groß, wenn man Wissenschaft wie in diesem Aufsatz als „Welterweite­r­ung“ versteht: Denn eine „Welt“, ein Gesichtskreis wird in beiden Fällen ausgedehnt. Damit wollen wir nicht die immensen Leistungen der „forschenden“, der Wissenschaft im engeren Sinne abwerten; natürlich ist es von großer Wichtigkeit und verdient eine intensive Förderung, dass die Menschheit als ganze ihr Wissen ausdehnt. Doch wollen wir der Ansicht entgegentreten, aufgrund der winzigen Zahl der in der Forschung Tätigen sei es für den Großteil der Menschheit illusorisch, der Wis­senschaft (hier im weiteren Sinne) als telos nachzustreben. Tatsächlich wurde diese im Laufe der Menschheitsgeschichte immer weiter demokratisiert: durch bahnbrechende Erfindungen wie Schrift, Buchdruck und Internet, aber auch und dadurch bedingt durch einen allgemeinen gesellschaftlichen Wandel, der neben dem Wohlstand auch die Bildung und Wissenschaft in immer breitere gesell­schaftliche Kreise trug. Man kann wohl durchaus behaupten, dass die Lebensbedingungen der Wis­senschaft in der heutigen Gesellschaft besser sind als je zuvor.

Das allerdings heißt nicht, dass man mit ihnen schon zufrieden sein könnte. Dazu seien einige Punkte bemerkt. Zunächst einmal fehlt es der Wissenschaft (hier wieder im weiteren Sinne) noch immer an Wertschätzung. Zumindest für die westlichen Gesellschaften gilt das nur noch in geringem Maße für die „nützliche“ Wissenschaft. Für „unnütze“ Wissenschaft sieht die Situation bisweilen aber auch hier anders aus, so wenn beispielsweise „Orchideenfächer“ an den Universitäten als überflüssig erachtet werden, an Schulen kaum noch Unterricht in „nutzlosen“ Fächern wie beispielsweise alten Sprachen angeboten wird und andere Fächer wie beispielsweise Mathematik kaum noch auf die Grundlagen, sondern nur noch auf praktische Anwendungen Wert legen; allgemein wenn gefordert wird, die Schule solle mehr auf das „spätere Leben“ vorbereiten und die universitäre Forschung der Gesell­schaft von Nutzen sein. In allen Fällen zeigt sich eine Geringschätzung für das Humboldtsche Ideal des Wissens um seiner selbst willen. Natürlich sollte die Schule auch auf das „spätere Leben“ vorbe­reiten, aber vor allem sollte sie den Gesichtskreis erweitern, der sich danach noch genug verengt: Ein späterer Jurist erfährt so vielleicht das einzige Mal in seinem Leben etwas über Physik und Biologie, ein Ingenieur über Literatur und Philosophie. Und natürlich sollte die universitäre Forschung auch der Gesellschaft dienen, aber will man beispielsweise Gefahr laufen, dass die Menschheit erlangtes Wissen in „Orchideengebieten“ wieder verliert, weil man die zur Tradierung notwendigen Lehrstühle nicht finanzieren will?

Auf der anderen Seite sollten sich aber auch all diejenigen, die an den Universitäten oder sonstigen Einrichtungen der Wissenschaft angestellt sind, immerfort das enorme Privileg vor Augen halten, welches sie besitzen: Sie können den Großteil ihrer Zeit einzig der Wissenschaft widmen, und die Gesellschaft bezahlt sie dafür, herauszufinden, was eigentlich fast nur sie selbst und eine Handvoll anderer Fachleute interessiert. Damit stehen sie gewissermaßen in ihrer Schuld: Die Gesellschaft kann darum nicht nur verlangen, dass sie sich der Forschung mit allen ihren Kräften widmen und sie rein um der Sache willen betreiben, sondern auch, dass sie mit dem gleichen Enthusiasmus ihre Erkenntnisse in Form von Publikationen, Vorträgen und Lehre in die Gesellschaft tragen und damit diese Schuld zurückzahlen.

Nebenbei sei bemerkt, dass es auch einige Wissensgebiete gibt, die a priori nutzlos erscheinen, für den ein­zelnen jedoch aufgrund einer (wie auch immer entstandenen) gesellschaftlichen Konvention nützlich sind und dementsprechend wertgeschätzt und gelehrt werden. Als Beispiel lässt sich die Orthogra­phie in Sprachen wie dem Deutschen oder in noch stärkerem Ausmaß dem Englischen und Französischen anführen. Unvoreingenommen betrachtet hat es zum Beispiel nicht sehr viel Sinn, die recht willkürlich schei­nende Aufteilung der deutschen Wörter, die mit stimmlosem labialen Frikativ beginnen, in solche, die sich mit f und solche, die sich mit v schreiben, auswendig zu lernen: Eine gegenseitige Verständlich­keit wäre auch gewährleistet, wenn hier jeder seiner Vorliebe folgte; oder aber man könnte (um die Flüssigkeit des Lesens nicht zu beeinträchtigen) eine allgemeine Festlegung entweder zugunsten des v oder des f treffen. Stattdessen aber wird die willkürliche Konvention aufrecht erhalten und macht es so für den einzelnen nützlich, etwas vordergründig Nutzloses zu lernen, da er sich ansonsten in der Gesellschaft als ungebildet verriete und darum Nachteile in Kauf nehmen müsste. Ähnliches gilt beispielsweise für eine rudimentäre Allgemeinbildung; wer nicht weiß, was die Hauptstadt Großbri­tanniens ist und so unklug ist, dies kundzutun, hat vermutlich mit nachteiligen Konsequenzen zu rechnen, auch wenn er gar nicht vorhat, das Land jemals zu bereisen. In manchen gesellschaftlichen Kreisen ist es noch nicht einmal mit einer solchen rudimentären Allgemeinbildung getan, sondern um sich auf solchem Parkett sicher bewegen zu können, muss schon eine umfangreiche Kenntnis gewisser, meist geisteswissenschaftlicher Gebiete vorgewiesen werden können. Die Anhänger der Ideen des Herillos und Humboldts aber können der Wertschätzung des „nutzlosen“ Wissens in diesem Falle, wo es nicht um seiner selbst willen erworben wird, nur wenig abgewinnen, selbst dann nicht, wenn die gesellschaft­lich Konvention, die seine Kenntnis unabdingbar macht, ursprünglich auf Grundlage von Humboldt­schem Gedankengut entstanden sein mag.

Eine weitere Forderung an die Gesellschaft, die sich aus der Idee von Wissenschaft als „Welterweite­rung“ ergibt, ist dass der Fokus von Lehre und Wissensvermittlung, wo immer das möglich ist, statt auf Fakten und Fertigkeiten auf Einsicht gelegt werden sollte. Natürlich sind auch Fakten und Fertig­keiten wichtig. Die bisweilen gehörte Behauptung, Faktenkenntnis sei nicht wichtig, weil man ja alles nachschlagen könne, ist nur bis zu einem gewissen Grade richtig: da Daten, um prozessiert werden zu können, sich im Arbeitsspeicher befinden müssen, d. h. um ein Faktum in seine Gedankengänge mit einbeziehen zu können, muss es überhaupt bekannt sein; werden die Lücken zu groß, so weiß man auch nicht mehr, was nachzuschlagen sei. Ebenso sind selbstverständlich Fertigkeiten für die Lö­sung von konkreten Problemen unentbehrlich. Und dennoch sollte das Primat von Bildung immer die Einsicht bleiben: warum die Dinge so und nicht anders sind; was die Mechanismen und Wirkprinzipi­en hinter beobachteten Entwicklungen sind; was die Ideen hinter Theorien sind und wie sie zusam­menhängen. Natürlich ist das für manche Wissensgebiete nur eingeschränkt möglich, etwa Fremd­sprachen, wo es vor allem auf Fakten (Vokabeln und Grammatik) und Fertigkeiten (sprechen, hören, lesen, schreiben) ankommt; doch selbst hier ist es möglich, Einsicht in die Regeln, die eine Sprache beherrschen und die Mechanismen, nach denen sie funktioniert, zu vermitteln.

Tatsächlich trifft die Forderung, von der Faktenvermittlung den Fokus wegzulenken, keineswegs sel­ten auf taube Ohren, ja sie ist mancherorts fast verpönt. Doch wird jener dann häufig statt auf die Einsicht auf die Fertigkeiten umgelenkt; so etwa wenn in Physik und Mathematik das Augenmerk darauf gelegt wird, nützliche Rechentechniken zu erlernen, ohne zuvor die dahinterstehenden Ideen zu begreifen. Von unserem Standpunkt aus gesehen aber ist zu wünschen, dass eine Bildung, die nur auf Fertigkeiten statt auf Einsicht abzielt, genauso verpönt sei wie jene zu Recht vielerorts in Verruf geratene faktenfokussierte Bildung.

Die letzte Forderung schließlich ist eigentlich unerfüllbar: dass der Wissenschafts- und Bildungsbe­trieb frei bleibe von Voreingenommenheit, Missgunst, Rechthaberei, Ruhmsucht, Konkurrenzdenken und Selbstdarstellung, durch welche die Herillische Idee vergiftet wird; ja noch größeren Schaden nimmt als durch mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung der Wissenschaft, da diese dadurch von innen angegriffen ist. Unerfüllbar ist sie aufgrund der menschlichen Natur. Und dennoch kann und sollte die Gesellschaft danach streben, sich dem Ideal einer von jenen Übeln befreiten Wissenschaft zumindest anzunähern.

Solches oder ähnliches also ist es, was sich aus unseren Überlegungen für die Gesellschaft ergibt; in­wieweit dies wo in der Welt verwirklicht sei oder sein werde, ist hingegen eine ganz andere Frage. Der Einzelne muss ohnehin selbst entscheiden, wie er zu der kühnen These des Herillos stehen will. Es ist zu vermuten, dass die große Mehrheit sie ver­neint. Wir jedenfalls sind hier dennoch zu ihrer Apologie angetreten. Denn unserer Meinung nach bleibt das Streben nach Wissen ein Griff nach dem göttlichen Funken, der, obgleich wie alles mensch­liche Tun letztlich sinnlos und dem Vergehen vorausbestimmt, großartig wie kaum etwas anderes er­scheint.