Solipsistische Ethik oder Warum soll ein Solipsist moralisch handeln?
Warum soll ein Solipsist moralisch handeln? Diese so offensichtliche, sich so aufdrängende Frage zu beantworten haben wir uns hier vorgesetzt. Vom unvoreingenommenen, naiven Standpunkt aus betrachtet muss der Solipsismus zu einem radikalen praktischen Egoismus führen; wie denn auch Schopenhauer theoretischen Egoismus (das ist Solipsismus) und praktischen Egoismus als einander bedingend und als Spielarten derselben Grundansicht betrachtet. Demnach müsste ein Solipsist geradezu ein Schurke sein, der sich um das Wohlergehen von Mitmenschen und Mitgeschöpfen nicht im Geringsten bekümmert, stattdessen zu jedem Verbrechen ihnen gegenüber bereit ist, das ihm nicht schadet. Wir wollen hier durchaus die entgegengesetzte Ansicht vertreten: Dass der Solipsismus, richtig verstanden, mit einer moralischen Handlungsweise nicht nur vereinbar ist, sondern sie in gewisser Hinsicht sogar befördert und anregt.
Solipsismus, in metaphysischer Sichtweise, heißt dass die Beschaffenheit der Wirklichkeit, der Welt, durch und durch monistisch ist. Alle Wahrnehmung und damit alle Wirklichkeit wird vereinigt gedacht auf eine Instanz, das Ich; die Wirklichkeit ist darum eine zusammenhängende Einheit. In der gewöhnlichen Sichtweise hingegen ist die Wirklichkeit fragmentiert, da eine sehr große Anzahl an wahrnehmenden Instanzen angesetzt wird. Dass dies zu einem eklatanten Widerspruch führt, ist offenkundig und an anderer Stelle behandelt. Hier geht es uns aber um die Konsequenzen der monistischen, das heißt solipsistischen Beschaffenheit der Wirklichkeit in ethischer Hinsicht.
Auch wenn die Wirklichkeit eine Einheit bildet, besteht sie aus untereinander durchaus heterogenen Schichten. Deren Struktur ist komplex und lässt sich mit sprachlichen Mitteln nur unzureichend beschreiben, doch kann man wohl eine prinzipielle Unterteilung der Wirklichkeit in zwei Hauptschichten ansetzen: Dies sind einerseits die sinnliche Wahrnehmung und andererseits die Geistesvorgänge, welche man auch als Außen- und Innenwelt bezeichnen kann. Da Wahrnehmung äquivalent zu Wirklichkeit und Welt ist, handelt es sich bei Letzterem im Grunde nur um eine andere Art sich auszudrücken. Dennoch wird es dem an den Vorstellungen der immanenten Weltanschauung geschulten Verstande oft einfacher fallen, in den Begriffen von Wirklichkeit und Welt statt in jenen der Wahrnehmung zu denken. Im Prinzip spricht nichts dagegen, allein es ist stets im Auge zu behalten, nicht in die grundfalsche realistische Ansicht zu verfallen: Was man, in den Kategorien der Wirklichkeit redend, als Außenwelt bezeichnet, ist nichts anderes als die sinnliche Wahrnehmung, genauso wie die Innenwelt nichts anderes ist als die Wahrnehmung der Geistesvorgänge. Bei beiden handelt es sich um Teile der Gesamtheit der Wahrnehmung. Diese Gesamtheit lässt sich auch als Bewusstsein bezeichnen. Innen- und Außenwelt besitzen nicht nur beide für sich eine äußerst verwickelte und komplexe Struktur, sie affizieren und beeinflussen einander auch in mannigfaltiger Weise. Ja sie sind nicht einmal völlig scharf gegeneinander abgegrenzt, sondern gehen gewissermaßen fließend ineinander über: Nichts anderes wird man auch erwarten von zwei Schichten ein und derselben Einheit, der Gesamtheit der Wahrnehmung, des Bewusstseins.
Sehr grob kann man die Innenwelt wiederum untergliedern in zwei Schichten, auch wenn diese, mehr noch als dies für Innen- und Außenwelt der Fall ist, amalgamartig verbunden sind: Dies sind der Verstand und das Gemüt, man könnte auch von Gedanken und Gefühlen sprechen. Für eine Ethik jedweder Art ist allein das Gemüt von Belang: Denn allein in diesem drücken sich die für die Ethik ganz wesentlichen Kategorien von Gut und Schlecht aus, ohne welche sie nicht bestehen könnte. Deren Existenz ist einer der rätselhaftesten Aspekte des Wirklichen überhaupt. Gutheit und Schlechtheit sind aus der Erfahrung des Lebens heraus so selbstverständlich und offenkundig in ihrer Bedeutung, wie sie für den Metaphysiker unverständlich sind. Nicht nur, dass etwas wirklich ist und nicht nichts, das größte Rätsel überhaupt; es stellt sich darüber hinaus die Frage, wieso diesem Wirklichen diese unbegreiflichen Etikette von Gut und Schlecht anhaften. Da sich solche Fragen prinzipiell nicht auflösen lassen, bleibt nichts anderes übrig, als Gut und Schlecht als apriorische Begriffe zu nehmen und es schlechterdings als gegeben hinzunehmen, dass sie sich in der Wirklichkeit manifestieren. Auf diesem Fundament wird die Ethik aufgebaut, ja muss sie aufgebaut werden: Denn Ethik im allgemeinsten Sinne (in Kürze werden wir den Begriff auf seinen engeren, traditionellen Sinn verengen) ist nichts anderes, als die Handlungen des Ichs danach zu bewerten, welches der beiden Etikette Gut und Schlecht der Wirklichkeit zukommt, die sich aus diesen Handlungen ergibt. Dazu muss sie zwei verschiedene, gleichwohl eng verflochtene Fragestellungen behandeln: Sie muss einerseits systematisch untersuchen, wie die Wirklichkeit beschaffen sein muss, damit ihr das Prädikat Gut zukomme; und andererseits, wie die Handlungen des Ichs beschaffen sein müssen, um einen solchen Zustand der Wirklichkeit herbeizuführen.
Da der Begriff der Gutheit apriorisch ist, und es nicht weiter erläuterbar ist, was damit gemeint sei, wenn das Ich einen Zustand der Wirklichkeit als gut empfindet, muss die Behandlung der ersten Fragestellung gänzlich phänomenologisch erfolgen. Am unmittelbarsten als gut empfindet das Ich wohl das eigene körperliche Wohlergehen, das heißt Gesundheit als die Grundlage von allem anderen; Befriedigung von Hunger und Durst sowie dem Geschlechtstrieb; angenehme körperliche Empfindungen wie etwa ein warmes Bett, eine erfrischende Brise an einem heißen Tag, Ruhe nach körperlicher Anstrengung und so fort. Dass Zustände der Wirklichkeit, in denen ein solches Wohlergehen besteht, im Allgemeinen als gut zu bezeichnen sind, wird keiner ernsthaft bestreiten wollen, genauso wenig wie dass die entgegengesetzten Zustände, in welchen etwa Krankheit, Hunger, Schmerz und so fort herrschen, schlecht sind. Wäre das eigene körperliche Wohlergehen jedoch das einzige Kriterium für Gutheit der Wirklichkeit, so müsste die Frage, ob sich ein Solipsist altruistisch verhalten sollte, grundsätzlich verneint werden. Indes lehrt die Erfahrung, dass dem keineswegs so ist, sondern das eigene körperliche Wohlergehen immer nur teilweise über Gutheit und Schlechtheit der Wirklichkeit bestimmt. Zunächst einmal müssen die geistigen Genüsse etwa durch Theater, Bücher, Musik, Gespräche, Nachdenken und so fort als ebenfalls unmittelbar gut erwähnt werden. Auch diese sind in Hinsicht auf ein altruistisches Verhalten des Solipsisten bedeutungslos. Noch einige andere rein geistige Phänomene fallen in diese Kategorie, etwa Freude über Erfolge, die eigene soziale Stellung oder Anerkennung.
Wir wollen uns damit nicht im Detail beschäftigen, um nicht unser eigentliches Ziel, die Entwicklung einer solipsistischen Ethik im engeren Sinne (das heißt des Teils der Ethik im allgemeinen Sinne, welcher die Beziehungen zu den Mitgeschöpfen betrifft), aus den Augen zu verlieren. Für diese ist entscheidend eine ganz andere Form von geistigem Wohlergehen. Denn wir stellen fest, dass es eine ganz und gar erstaunliche Kopplung gibt zwischen dem Gemüte als Teil der Innenwelt einerseits und jenem Bereich der Außenwelt, den die Mitmenschen und Mitlebewesen darstellen, andererseits. Und zwar affiziert die Beschaffenheit, welche der Wirklichkeit in dem hypothetischen Falle zukäme, dass das Ich in einem jener Mitmenschen oder Mitlebewesen seinen Sitz hätte, in direkter Weise das Gemüt und beeinflusst damit die Gut- oder Schlechtheit der Wirklichkeit. Dabei kann diese Kopplung entweder positiver (Gutheit oder Schlechtheit in einem Wesen der Außenwelt ruft die gleiche Qualität im Gemüte hervor) oder negativer (Gutheit oder Schlechtheit in einem Wesen der Außenwelt ruft die entgegengesetzte Qualität im Gemüte hervor) Art sein. Zusätzlich lässt sich natürlich danach klassifizieren, ob im Gemüte Gutheit oder Schlechtheit hervorgerufen wird, sodass sich insgesamt vier Formen der Affizierung des Gemüts durch Wesen der Außenwelt ergeben. Ruft Schlechtheit Schlechtheit hervor, spricht man von Mitleid; Schlechtheit, die Gutheit hervorruft, ist Schadenfreude; Gutheit, die Gutheit hervorruft, ist Mitfreude; und schließlich bezeichnet man Schlechtheit, die von Gutheit hervorgerufen wird, als Missgunst.
Wie diese Affizierung des Gemüts durch das Wohl und Wehe der Wesen der Außenwelt zu erklären sei, ist wieder einmal für den Metaphysiker eine unauflösbare Frage, im Rahmen der immanenten Weltanschauung jedoch einfach anzugeben. Denn der Mensch ist ein Zoon politikon, und ein in Gemeinschaft lebendes Lebewesen, das Emotionen wie Mitleid, Mitfreude, Missgunst und Schadenfreude nicht empfindet, ist nur schwer vorstellbar, da sie mit den wesentlichen Funktionen einer Gemeinschaft eng verknüpft sind. Indes daraus folgt auch, dass sich diese Ausführungen zuvörderst auf den Menschen oder ein Tier, welches ebenfalls zu den Zoa politika gehört, beziehen; sollte das Ich hingegen in ein Tier geworfen sein, welches kein Zoon politikon ist, besäßen sie nicht zwangsläufig Gültigkeit.
Für eine solipsistische Ethik sind vor allem die positiven Kopplungen von Belang, das heißt Mitleid und Mitfreude. Schadenfreude und Missgunst spielen hierfür keine Rolle, da sie nicht nur weniger bedeutsam sind, sondern meist auch keine Handlungen anregen; wenn aber doch, das ist wenn es daran geht, Wesen der Außenwelt regelrecht zu schaden, um mittels Schadenfreude Gutheit im Gemüte zu erzeugen oder durch Missgunst verursachte Schlechtheit zu beseitigen, sie notwendigerweise in ärgsten Konflikt mit dem Mitleid geraten, welches in Bezug auf selbst zugefügtes Leid besonders stark wirkt. Mitleid und Mitfreude stellen in der Tat den Schlüssel dar zu der eingangs gestellten Frage, warum sich ein Solipsist moralisch, das ist altruistisch verhalten soll. Denn in Anbetracht der großen Wichtigkeit, die das Wohl und Wehe der Wesen der Außenwelt aufgrund von Mitleid und Mitfreude für die Gut- oder Schlechtheit der Wirklichkeit besitzt, muss es auch einen bedeutsamen Leitstern für die Handlungsweise des Ichs darstellen.
Stellen wir uns vor, in der Außenwelt träte auf ein Mensch, der dem Hungertode nahe ist, und das Ich hätte Nahrung in Fülle zur Verfügung; oder einer, der durch einen Unfall verletzt ist, und das Ich könnte leicht einen Arzt rufen; oder auch nur einer, der zu Tode betrübt und verzweifelt ist, und das Ich wüsste, wie er zu trösten ist: Welch unsägliche Schlechtheit riefe es im Gemüte hervor, nicht der Stimme des Mitleids zu folgen und ihm nicht zu helfen. Oder man führe sich die Schlechtheit vor Augen, die entstünde, wenn das Ich einem nahestehendem Menschen, ja eigentlich schon einem zu ihm in ganz neutralem Verhältnisse stehenden, körperliche oder seelische Schmerzen zufügte. Selbst Menschen in ganz fernen Ländern können zum Gegenstand des Mitleids werden, wenn ihr Schicksal dem Ich plastisch genug vor Augen tritt. Denn dann affiziert ihr trauriger Zustand das Gemüt und es entsteht Gutheit, wenn das Ich ihnen, etwa durch Spenden, zur Hilfe kommt. Menschen hingegen, deren Geschicke dem Ich gänzlich unbekannt sind, ja schon solche, die es nur gleichsam aus dem Augenwinkel wahrnimmt, können nicht das Gemüt affizieren und Mitleid hervorrufen: Sie sind vom solipsistischen Standpunkt praktisch inexistent und geben keinen Anlass zu altruistischem Verhalten des Ichs.
Mitleid und Mitfreude sind die einzigen möglichen Grundlagen einer solipsistischen Ethik und – da der Solipsismus logisch zwingend ist – einer Ethik überhaupt. Nicht nur gehen von Mitleid und Mitfreude alle theoretischen ethischen Betrachtungen aus, auch in der Praxis sind ethische Handlungen selten durch abstrakte und blutleere Pflichtenethiken motiviert, sondern meist durch Mitleid allein. Theoretische Studien wie die vorliegende sind für das moralische Handeln an sich dabei nur wenig bedeutsam: Denn das Ich wählt in intuitiver Weise eine Handlung, welche Gutheit erzeugt. Theoretische Überlegungen werden erst dann wichtig, wenn die Konsequenzen einer Handlung schwer abzusehen sind; oder aber das Gemüt aus verschiedenen Richtungen in widerstreitender Weise affiziert wird. Jedoch die prinzipielle Entscheidung, das Leid in einem Wesen der Außenwelt verringern zu wollen, ist eine intuitive, durch das Gemüt veranlasste.
Wir haben bisher von der Kopplung zwischen dem Gemüt und dem Befinden der Wesen der Außenwelt in ganz allgemeiner Weise gesprochen. Deren prinzipielles Vorhandensein ist keine apriorische Notwendigkeit, sondern eine empirische Tatsache. A priori lassen sich zweifellos ganz verschiedene Stärken dieser Kopplung denken. In der empirischen Realität hat das Ich seinen Sitz dauerhaft in einem Lebewesen der Welt. Schon in diesem Rahmen zeigen sich die prinzipiell denkbaren unterschiedlichen Kopplungsstärken bis zu einem gewissen Grade empirisch realisiert, und zwar in zeitlicher Abfolge. Jedoch ist diese Variation in der Regel nicht allzu stark und die Kopplungsstärke überraschend konstant. Um tatsächlich deren volle Bandbreite verwirklicht zu finden, müssen wir die Wesen der Außenwelt betrachten und uns wieder den Standpunkt zu eigen machen, diese hypothetisch als Sitz des Ichs zu betrachten. Hier nun finden wir die bemerkenswerteste Spanne unterschiedlicher Kopplungsstärken vor. Wir kennen einerseits die Heiligen, denen das Wohlergehen der anderen das Wichtigste überhaupt ist, bei denen Mitleid und Mitfreude stark ausgeprägte Emotionen sind, welche entscheidender als alles für das eigene Wohlergehen sind; und wir sehen andererseits die Bösen, bei denen die besagte Kopplung praktisch nicht besteht, die kein Mitleid und keine Mitfreude kennen und die ihr eigenes Wohlergehen zu fördern vermögen, indem sie skrupellos das Wohlergehen anderer Wesen beeinträchtigen, ohne dass durch das Mitleid diese Beeinträchtigung auf ihr eigenes Wohlsein zurückfiele; ja es kann hier die Kopplung sogar ins Negative umschlagen, indem ihr Gemüt von Mitleid und Mitfreude zwar nicht affiziert wird, dafür von Schadenfreude und Missgunst umso mehr.
Die große Mehrheit der Wesen, so auch jenes, in welchem das Ich, während es diese Schrift verfasst, seinen Sitz hat, liegen natürlich irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Man könnte die Phänomenologie dieser Zwischenstufen sehr ausführlich und detailreich behandeln, doch hier sei sie nur kurz skizziert. Wie erwähnt, finden wir am einen Ende jene, die nur von Schadenfreude und Missgunst, aber nicht von Mitleid und Mitfreude affiziert werden, die Bösen schlechthin; auf welche jene folgen, denen zwar das Leid anderer keine Freude bereitet, denen es aber gleichgültig ist und die es ihnen nach Belieben zufügen, wenn es für sie selbst von Nutzen ist. Den Bösen am nächsten stehend, jedoch nicht mehr zugehörig, sind diejenigen, die anderen aktiv niemals Leid zufügen, jedoch auch keine Anstalten machen, es zu lindern, wenn sie es vorfinden. Darauf folgen dann die verschiedensten Abstufungen von Wesen, von jenen, die sich nur schwer und selten vom Mitleid zu einer aktiven Leid reduzierenden Handlung rühren lassen, die sie selbst nur wenig kostet, über jene, bei denen dies leicht und häufig geschieht und die viel zur Hilfe anderer einsetzen, bis schließlich zu den erwähnten Heiligen. Um die Stärke besagter Kopplung zu beurteilen, muss dabei nicht nur in Betracht gezogen werden, wie viel Aufwand für selbstlose Hilfe getrieben wird, sondern auch wie stark oder schwach das Leid eines anderen in das Bewusstsein und damit in die Wirklichkeit des Ichs treten muss, um Mitleid zu erzeugen: So ob es schon zureichend ist, an das Leid anderer Wesen, die in keinster Beziehung zum Leben des Ichs stehen, bloß in abstrakter Weise zu denken; oder ob eine direkte Kunde von diesem Leid notwendig ist; oder ob das Leid gar in ganz unmittelbarer Weise in das Leben des Ichs treten und sich ihm gleichsam aufdrängen muss. Ein anderer Maßstab, woran sich die Kopplungsstärke erweist, ist die Beziehung, die das Ich zu den Wesen hat, denen gegenüber es selbstlos handelt: Vom höchsten Grade der Kopplungsstärke zeugt es, wenn es seinen Feinden, die ihm ihrerseits geschadet haben, Gutes tut; von einem weit geringeren Grade hingegen, wenn es so nur gegenüber seinen Freunden handelt, die ihm zuvor schon selbst Gutes getan haben.
Kurz wollen wir uns nun der Frage der nichtmenschlichen Wesen der Außenwelt widmen; denn unsere bisherigen Untersuchungen bezogen sich meist, zumindest implizit, auf den Menschen allein. Unter den Tieren finden sich sowohl solche Arten, die wie der Mensch Zoa politika sind, als auch solche, die es nicht sind. Eine Kopplung der beschriebenen Art tritt bei den ersteren meist allgemein auf, zumindest gegenüber Artgenossen, ganz wie beim Menschen; bei den letzteren kann man diese in der Regel fast nur in der Beziehung zwischen Mutter und Kind beobachten. Ähnlich wie bei den Menschen jedoch existiert schon unter den Mitgliedern einer Art typischerweise eine große Variation an Kopplungsstärken. Es spricht dann nichts dagegen, auch die nichtmenschlichen Wesen in das oben ausgeführte Spektrum zwischen Bösen und Heiligen einzufügen. Diese Prädikate mögen in Bezug auf Tiere befremden und es wirkt auf den ersten Blick seltsam, in moralischen Begriffen von Tieren zu sprechen. Allgemein wird dagegen angeführt, dass Tiere keine Fähigkeit zur Reflexion besitzen und sich der Konsequenzen ihres Handelns nicht bewusst sind; das ist dass sie nicht in der Lage sind zu begreifen, dass der Zustand des Schlechtempfindens, den sie an äußeren Anzeichen bei anderen Wesen durchaus wahrnehmen können (ansonsten wäre die Kopplung ja gar nicht möglich), impliziert dass, wäre ihr Ich in das andere Wesen geworfen, in ihrem Gemüte die Art von Schlechtigkeit herrschte, die sie aus ihrer eigenen unmittelbaren Erfahrung kennen. Die Fähigkeit dazu setzt – wie auch viele andere – Menschen und Tier himmelweit auseinander. Doch ist nicht ersichtlich, warum sie die Eingruppierung der Tiere in das moralische Spektrum ausschließt, da das dafür ausschlaggebende Kriterium, die Stärke der Kopplung von Gutheit im Gemüte und Wohl und Wehe der Wesen der Außenwelt, bei ihnen durchaus vorhanden ist. A priori ist die besagte Erkenntnisfähigkeit davon unabhängig: Denn das Wissen darum, wie das Leid, das einer dem anderen zufügt, sich anfühlen würde, wäre er an dessen Stelle, hält ihn nicht notwendigerweise davon ab, es ihm zuzufügen, ja kann ihm im Gegenteil die Möglichkeit zu noch größerer Grausamkeit geben; genauso wenig, wie es ihn davon abhält, ihm kein Leid zuzufügen. Man kann also durchaus ein Tier mit moralischen Prädikaten wie „böse“ und „heilig“ belegen; nur muss man sich dabei für einen Vergleichsmaßstab entscheiden: entweder die Art, der es angehört, oder alle Arten, einschließlich des Menschen. Denn ein Tier, das einer Art von Zoa politika angehört und das sich wegen des Leidens seiner Artgenossen nicht bekümmert, erscheint im Vergleich der Art böse, während dasselbe Verhalten bei einer einzelgängerischen Art durchschnittlich sein mag. Zuletzt sei noch bemerkt, dass die Stärke der Kopplung zu Wesen der eigenen Art tendenziell größer ist als zu denen der anderen Arten. Dementsprechend zeugt altruistisches, ja schon allein nicht schädigendes Verhalten gegenüber Nicht-Artgenossen, etwa Vegetarismus beim Menschen, von einem allgemein hohen Grad an Kopplungsstärke.
Nun aber zu der eingangs gestellten Frage: Warum soll ein Solipsist moralisch handeln? Die Frage nach dem Sollen an sich erfährt freilich gleich mehrere Einwände. Der offensichtlichste entspringt der alten und schon reichlich abgedroschenen Debatte über den freien Willen, welcher scheinbar nötig ist, um überhaupt vom Sollen sprechen zu können. Einer rein metaphysischen Betrachtungsart ist ein ominöser „freier Wille“ in der Tat ganz fremd: Diese nimmt stattdessen die Beschaffenheit des Wirklichen als gegeben hin und setzt die Frage nach dessen Warum als unergründlich an. Doch im Rahmen einer solch strikten Sichtweise lässt sich praktisch keine Diskussion führen, schon gar keine zur Ethik. Steigt man eine Stufe hinab, so löst sich die Problematik leicht auf: Denn unsere Existenz ist ganz und gar durchdrungen von dem Gefühl, in freier Entscheidung Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen zu können. Dem Metaphysiker ist dieser Begriff ganz unverständlich; dem bewussten Ich aber könnte kein Begriff anschaulicher und verständlicher sein als dieser. In jedem Augenblick seines Daseins fühlt es sich absolut frei, über seinen Körper nach Belieben zu verfügen. Allein darauf kommt es in der Frage nach dem Sollen an, und die Antwort ist eindeutig: An der Problematik des freien Willens kann es nicht scheitern, wenn wir vom Sollen handeln wollen. Tatsächlich lassen die angeführten Argumente die Diskussion über den freien Willen, welche sich durch die gesamte Philosophiegeschichte zieht, sogar in einem äußerst ungünstigen Licht erscheinen: Auf der höchsten Stufe des streng metaphysischen Standpunkts lässt sich ihr überhaupt kein Sinn beilegen; auf der nächstunteren Ebene der philosophischen Betrachtungsweise aber ist sie nutzlos und überflüssig.
Ein weiterer Aspekt in der Debatte über das Sollen ist die Frage, ob wir als Philosophen – und als solche reden wir hier – überhaupt vom Sollen sprechen dürfen, oder ob nicht die Philosophie sich vielmehr ausschließlich betrachtend-theoretisch zu verhalten habe. Auch wenn es sich hierbei eher um eine Fragestellung aus dem Gebiet der Wissenschaftslehre handelt, wollen wir uns kurz dazu äußern. Eine Wissenschaft im strengen Sinne muss in der Tat rein deskriptiv und theoretisch sein; es handelt sich dabei sogar um eines der wichtigsten definierenden Charakteristika von Wissenschaft. Philosophie aber ist gar keine Wissenschaft im engeren Sinne, aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht. Sie ist also ersteinmal von dem wissenschaftlichen Schweigegebot in der Frage des Sollens nicht betroffen. Natürlich könnte man immer noch, ganz unabhängig von der Stellung der Philosophie außerhalb der Wissenschaften, die Forderung erheben, dass sie sich gleich jenen nur betrachtend verhalten dürfe; eine Ansicht, die durchaus einiges für sich hat. Doch haben es andererseits die meisten der großen Philosophen anders gehalten und Werke mit durchaus normativem Charakter geschrieben. Wir wollen es mit dieser Mehrheit halten und den Versuch wagen, mit normativem Anspruch zu reden.
Der wohl gewichtigste Einwand ergibt sich aus dem oben gesagten: Moralische Entscheidungen werden nur selten unter Berücksichtigung abstrakt-theoretischer Schriften, ja irgendwelcher Schriften überhaupt gefällt, sondern entspringen in der Regel in unmittelbarer, intuitiver Weise der Regung des Gemüts. Welchen Sinn sollen dann Reden vom Sollen haben? Zwar könnte man die Position einnehmen, dass man die Frage, was das Ich tun soll, auch rein theoretisch-betrachtend untersuchen könne, ohne damit die Hoffnung zu verbinden, dass es dies auch tatsächlich tut, und diese Haltung hat durchaus einiges für sich. Doch haftet ihr letztlich etwas Unbefriedigendes an.
Anders als in den vorigen Fällen können wir diesen Einwand nicht völlig ausräumen, jedoch derart abschwächen, dass er uns nicht davon abzuhalten vermag, vom Sollen zu reden. Entscheidend ist einerseits, dass das Gemüt meist aus einer Vielzahl an Richtungen affiziert wird und verschiedene Regungen darin um die Vorherrschaft kämpfen; und andererseits dass selbiges keineswegs vom Verstande unabhängig ist, sondern oft in einem Zwiegespräche mit diesem seine Entscheidungen fällt, wenn es darin auch stets das letzte Wort behält. Eine Rede vom Sollen in einer theoretischen Schrift wie der vorliegenden kann zwar ihren Appell nur an den Verstand richten; doch dieser wiederum kann für die Sache dieser Schrift ein Wort einlegen beim Gemüte; was gerade dann erfolgversprechend erscheint, wenn das Gemüt von unterschiedlichen Regungen hin- und hergerissen ist. Dass eine solche Schrift auf diese indirekte Weise tatsächlich eine Entscheidung beeinflusst, ist freilich selten. Doch reicht es ja schon, wenn die Hoffnung besteht, dass sie auch nur in einem Falle einen solchen Einfluss hat: Mehr braucht es nicht zu ihrer Rechtfertigung.
All diese Argumente legen nahe, dass wir trotz der vorgebrachten Einwände sinnvollerweise Antwort geben können auf besagte Frage, warum ein Solipsist moralisch handeln soll. Nach der geleisteten Vorarbeit fällt sie nicht mehr allzu schwer. Ein Solipsist soll deshalb moralisch handeln, das heißt sich um das Wohlergehen der anderen Geschöpfe bemühen, weil sie zu seinem eigenen Bewusstsein gehören, welches die Welt ist. Er muss nach Frieden und Selbsteinklang in seinem Bewusstsein streben und Hader und Aufruhr darin vermeiden, ansonsten kann er der Glücklichkeit und Ataraxie nicht teilhaftig werden. Durch das beschriebene Phänomen der Kopplung zwischen dem Wohlergehen der Wesen der Außenwelt und dem inneren Teil des Bewusstseins, welche dem Solipsisten als Menschen und somit als Zoon politikon ureigen ist, können die beiden Bestandteile des Bewusstseins, Innenwelt und Außenwelt, nicht in dem Sinne als getrennt betrachtet werden, dass sich Gutheit im Gemüte erzielen ließe unter Vernachlässigung des Wohlergehens der Mitgeschöpfe. Dies ist der Kern der solipsistischen Ethik. In deren Sinne kann man auch die berühmte Regel „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ auslegen: Denn Nächstenliebe ist dann Selbstliebe und Selbstliebe ist Nächstenliebe. Darin zeigt sich die Konsequenz des monistischen Wirklichkeitsverständnisses des Solipsismus, der die gesamte Welt als Einheit, welche das Bewusstsein ist, begreift. Lässt der Solipsist Leiden in einem Wesen der Außenwelt zu, so findet dieses Leiden in seinem eigenen Bewusstsein statt. Das ist der Grund, warum ein Solipsist moralisch handeln soll.
Hier lassen sich Einwände erheben. Wie oben ausgeführt, finden wir, ungeachtet der monistischen Natur des Bewusstseins, schon unter den menschlichen Zoa politika die bemerkenswerteste Bandbreite von Stärken des Zusammenhangs von Außenwelt und Innenwelt, von den Heiligen bis zu den Bösen, bei denen ein solcher Zusammenhang zwischen dem Wohlergehen der Wesen der Außenwelt und dem Gemüte gar nicht besteht, oder schlimmer noch, bei denen das Leid in der Außenwelt Gutheit im Gemüte erzeugt. Unter den Tieren, die keine Zoa politika sind, findet sich sogar fast niemals eine solche Kopplung, außer in der Beziehung von Mutter und Kind.
Das wirft die Frage auf: Angenommen, das Ich hätte seinen Sitz in einem solchen bösen Wesen, wieso sollte es dann moralisch handeln, wenn doch die Gutheit im Gemüte unabhängig wäre vom Leid der anderen Wesen oder davon sogar gefördert würde? Tatsächlich kann man dafür nur schwer einen guten Grund nennen, und selbst wenn es ihn gäbe, so wird ein völliger Böser sich in seinem Handeln sicher nicht von einer Rede vom Sollen beeinflussen lassen. Es handelt sich deshalb um den kritischsten Punkt der solipsistischen Ethik. Nur soviel sei dazu hier gesagt: Mich, der ich diese Schrift verfasse, und wohl irgendwo zwischen Heiligem und Bösem stehe, macht der Gedanke, an der Stelle eines völligen Bösen zu sein, schaudern. Selbst wenn das Leiden der Wesen der Außenwelt im Gemüte keine Schlechtheit hervorruft, lässt sich wirklich Glücklichkeit und Ataraxie erreichen, wenn im eigenen Bewusstsein fortwährend Leiden stattfindet, das man selbst verursacht?
Im verbleibenden Teil dieser Schrift wollen wir uns etwas von der Eingangsfrage entfernen und einige konkrete moralische Fragestellungen im Rahmen der solipsistischen Ethik betrachten. Ihr allgemeiner Imperativ lautet, wie nun wortreich dargelegt, Leiden der Wesen der Außenwelt zu verhindern und ihr Wohlergehen, soweit möglich, zu fördern. Moralphilosophen interessieren sich aber – neben der Begründung von Moral, welche wir bereits gegeben haben – für die komplizierten Fälle, in denen die Anwendung des allgemeinen Prinzips nicht offensichtlich und simpel ist, für die ethischen Dilemmata.
Beginnen wir mit einem klassischen solchen Dilemma: Angenommen, durch das Töten eines unschuldigen Einzelnen könnte das Leben vieler anderer gerettet werden. Soll man dies tun? Die Antwort der solipsistischen Ethik fällt eindeutig aus und steht im Kontrast zu einer rein utilitaristischen Ethik: Nein, man soll nicht den einen töten, um die vielen zu retten. Denn in der solipsistischen Ethik kommt es nicht bloß auf die schiere Menge an Leid in der Außenwelt an, sondern auch und zuvörderst auf die Art, wie es das Gemüt affiziert. Dadurch, dass das Ich selbst aktiv das Leid des einen verursachen würde, würde dieses in der direktestmöglichen Form das Gemüt affizieren und darin noch größere Schlechtigkeit auslösen, als es die Opferung der vielen ohnehin schon tut.
Daraus erklärt sich, dass dieser Fall in der solipsistischen Ethik verschieden ist von folgendem, der für den Utilitaristen äquivalent zum ersten ist: Nämlich dass das Ich nicht aktiv einen Einzelnen töten muss, um die vielen zu retten; sondern dass es passiv vor die Wahl gestellt wird, ob der Einzelne oder die vielen sterben sollen. Da in diesem Falle offensichtlich das Leid bei jeder der beiden Möglichkeiten das Gemüt in gleicher Weise affiziert, gibt hier die größere Menge an Leid, die der Tod der vielen zur Folge hat, den Ausschlag.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass im Rahmen der solipsistischen Ethik zweierlei in eine Entscheidung eingehen muss: einerseits die reine Menge an Leid, das heißt seine Schwere sowie die Anzahl der davon betroffenen Wesen; andererseits die Stärke, mit der das Leid das Gemüt affiziert. Analoges gilt für das positive Wohlergehen. Sprechen beide Faktoren eindeutig für die gleiche Handlungsoption oder sind unter Betrachtung genau eines Faktors beide Optionen gleichwertig, so fällt die Entscheidung leicht; sind sie unter Betrachtung beider Faktoren gleichwertig, so kann und muss die Entscheidung willkürlich erfolgen, und ist dennoch die moralisch richtige; schwer wird die Entscheidung erst, wenn die eine Option mehr Leid erzeugt, die andere aber das Gemüt stärker affiziert. Ein Beispiel für den Fall, dass beide Handlungsoptionen das Gemüt gleichermaßen affizieren, die eine jedoch mehr Leid erzeugt, ist oben gegeben; der umgekehrte Fall bestünde beispielsweise, wenn eine Wohltat nur einer von zwei Personen erwiesen werden kann, von denen die eine dem Ich nahesteht, die andere aber unbekannt ist: Dann soll sie sicherlich der nahestehenden Person erwiesen werden. Ähnlich soll, wenn zwangsläufig einem Menschen oder einem Tiere Leid zugefügt werden muss, dieses im Allgemeinen (Ausnahmen sind denkbar) dem Tiere zugefügt werden: Denn der Mensch als Mitglied der gleichen Art wie das Ich steht diesem grundsätzlich näher und sein Leiden affiziert in größerem Maße sein Gemüt. Dass zwei Handlungsoptionen genau äquivalent unter Betrachtung beider Faktoren sind, ist selten, hat aber zur bemerkenswerten Folge, dass die letztendliche Entscheidung trotz der Willkür, die in sie einging, moralisch richtig ist. Für den letztgenannten Fall, wozu sich leicht ein Beispiel finden lässt und der in der Praxis häufig auftritt, können wir unglücklicherweise keine allgemeine Regel angeben. In jedem konkreten Fall muss abgewogen werden: Was wiegt schwerer, die größere Menge an Leid oder die engere Beziehung, die das Ich zu den Leidenden hat? Eine einfache Aufgabe ist dies in der Regel nicht.
Jedoch noch schwieriger und zahlreicher sind die Fälle, in denen noch nicht einmal feststeht, was mehr Leid erzeugt (oder mehr Wohlergehen) oder was einen größeren Einfluss auf das Gemüt besitzt. Wir wollen aus deren großer Vielfalt einige solche herausgreifen, in welchen die solipsistische Ethik einem bestimmten Standpunkt zugeneigt ist.
Ein moralisches Dilemma, das wohl genauso lange und eingehend diskutiert ist wie jenes von der Opferung des einen für die Rettung der vielen, lautet: Soll man gegen den ausdrücklichen Willen eines nahestehenden Menschen handeln, wenn man weiß oder auch nur zu wissen glaubt, dass es ihm zum eigenen Wohlergehen gereicht? In der Praxis handelt es sich oft nicht um ein echtes Dilemma; so ist es abwegig, etwa dem Willen kleiner Kinder oder Trunkener nachzukommen, wenn er ihnen offensichtlich schadet und sie dementsprechend, im Vollbesitz ihrer Urteilskräfte, ganz anders gewollt hätten. Ist der Betreffende sich seiner Sache selbst noch nicht ganz sicher, so gibt es überdies den möglichen Ausweg, ihn mit überzeugenden Argumenten umzustimmen. Ein eigentliches Dilemma liegt erst vor, wenn einer im Vollbesitz seiner Urteilskraft, in Kenntnis aller Argumente und Tatsachen, immer noch das will, was ihm, aus Sicht des Ichs, zum größeren Leide gereicht. Was also affiziert das Gemüt des Ichs mehr, seinem Willen nachzukommen oder nicht? Sicherlich wird sein Leiden, das ja zu verhindern gewesen wäre, das Ich nicht unbetroffen lassen; genauso wenig jedoch der Vertrauensbruch, seinem Willen zuwiderzuhandeln. Die Frage, was schwerer wiegt, lässt sich zwar nicht in vollster Allgemeinheit und mit letzter Gewissheit beantworten; doch ist zu berücksichtigen, dass passive Entscheidungen – und eine solche ist es, dem Willen einfach nachzukommen – das Gemüt in der Regel weniger affizieren als aktive, sodass das Urteil letztlich eher zu Gunsten der Befolgung des Willens ausfällt. Was die Menge des Leides betrifft, so ist die Frage scheinbar klar, denn nach Voraussetzung glaubt ja das Ich, durch Nichtbefolgung des Willens Leid zu verhindern. Doch sind die Wesen der Außenwelt und ihr Gemüt zwar bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar, letztlich dem Ich jedoch unverständlich. Wie also kann es sich gewiss sein, dass durch Zuwiderhandeln gegen den Willen des nahestehenden Wesens nicht viel größeres Leid entsteht? Schließlich wird dieses, wenn es seine Urteilskraft besitzt, einen Grund für seine Entscheidung haben. Somit fällt eigentlich auch dieses Kriterium zu Gunsten der Befolgung des Willens aus, sodass insgesamt die solipsistische Ethik dieser zugeneigter erscheint als der Zuwiderhandlung. Ganz anders allerdings fällt ihr Urteil in Bezug auf Verstorbene und deren postumen Willen aus: Diesem kann bedenkenlos zuwidergehandelt werden, wenn dies aus welchen Gründen auch immer vorteilhafter erscheint. Denn mit seinem Tode verschwindet ein Wesen aus dem Bewusstsein und kann das Gemüt in keiner Weise mehr affizieren.
Ein anderes Lieblingsproblem der Philosophen ist die ethische Bewertung des Lügens, welches wir hier gemeinsam mit dem verwandten Verrat besprechen wollen: Lügen ist das absichtliche Übermitteln falscher Information; Verrat ist das Preisgeben wahrer Information, die vertraulich hätte behandelt werden sollen. Sicherlich lässt sich aus der solipsistischen Ethik nicht ableiten, dass das Lügen an sich unmoralisch sei, wie es etwa Kant lehrte. Das berühmte Beispiel des Mörders, der fragt, ob sich sein Opfer im Hause versteckt halte, beweist allein schon das Gegenteil. Nicht notwendigerweise führt eine Lüge zu Leid, genauso wenig wie ein Verrat, und kann im Gegenteil sogar in machen Fällen Leid verhindern. Dass das Lügen nicht prinzipiell unmoralisch ist, soll jedoch nicht heißen, dass es moralisch gänzlich ambivalent oder gar indifferent ist. Tatsächlich lässt sich aus der solipsistischen Ethik eine allgemeine und tendenzielle Bewertung des Lügens ableiten, und diese fällt durchaus negativ aus, auch wenn es in einzelnen Fällen moralisch ist, zu lügen. Denn um moralisch gänzlich ambivalent zu sein, müssten Fälle, in denen eine Lüge moralisch beziehungsweise unmoralisch ist, in ihrer Anzahl und Bedeutung gleichberechtigt nebeneinander stehen: Was aber keineswegs der Fall ist, denn die Fälle, in denen Lügen Leid verhindert, erfordern immer schon spezielle Konstellationen und besondere Verhältnisse. Hingegen wenn man sich die unzähligen alltäglichen Gelegenheiten vergegenwärtigt, bei denen ohne Aufhebens schlicht die Wahrheit gesagt wird und sich die vielfältigen, großen wie kleinen Leiden vor Augen führt, welche es mit sich brächte, würde in allen diesen Gelegenheiten gelogen, so wird das immense Übergewicht der Fälle, in denen die Lüge unmoralisch ist, deutlich. Auch der Verrat kann zwar bisweilen Leid verhindern, wenn etwa der Verratene Böses plant, erzeugt jedoch in der Mehrzahl der Fälle Leid. Eine menschliche Gesellschaft, in welcher das Lügen allgemeine Gewohnheit wäre, könnte kaum existieren. Dies ist wohl auch der Grund, warum schon das Lügen an sich, ohne dass es Leid erzeugen muss, in der Regel das Gemüt negativ affiziert, in einer Weise, die durchaus der negativen Affizierung durch Leiden in Wesen der Außenwelt vergleichbar ist, wenn auch mit geringerer Intensität (ansonsten könnte es kaum Fälle geben, in denen Lügen moralisch ist, weil es Leiden verhindert). Genauso ist es für das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft bisweilen wichtig, dass bestimmte Informationen nur mit bestimmten Personen geteilt werden: Deshalb affiziert auch der Verrat das Gemüt negativ schon dann, wenn dadurch gar kein Leid entsteht.
Demnach erklärt die solipsistische Ethik Lügen und Verrat zwar nicht grundsätzlich für unmoralisch, jedoch für unmoralisch in der Mehrzahl der Fälle, da sie in der Mehrzahl der Fälle Leid erzeugen; und rückt sie selbst dann noch zumindest in die Nähe des Unmoralischen, wenn sie kein Leid erzeugen, aber auch keines verhindern.
Auf den Archetyp der Antigone geht wieder ein anderes Problem der Ethik zurück, das sich formulieren lässt wie folgt: Was hat Vorrang, wenn staatliche oder gesellschaftliche Normen, Ideologien oder Verhaltenskodizes sonstiger Art in Konflikt stehen mit dem Gewissen, das ist der Regung des Gemüts in moralischer Hinsicht? Da die solipsistische Ethik essenziell eine Ethik der Gemütsregung ist, fällt die Beantwortung dieser Frage so einfach aus wie die Behandlung keines der bisherigen Dilemmata: Grundsätzlich und immer hat das Gewissen Vorrang vor allen wie auch immer gearteten Normen, welche von der menschlichen Gesellschaft geschaffen sind. Diese an sich sind für den Solipsisten in moralischen Entscheidungen völlig bedeutungslos. Mittelbar können sie, durch ihre Auswirkungen, zwar durchaus ganz entscheidenden Einfluss darauf haben, was die moralisch richtige Handlung ist, da sie in allem menschlichem Verkehr von überragender Bedeutung sind. Niemals jedoch darf der Solipsist um ihrer selbst willen eine Handlung wählen, die seiner Gemütsregung entgegensteht.
Wir haben nun die solipsistische Ethik an dem Prüfstein einiger klassischer moralischer Dilemmata untersucht und dadurch von ihrem Wesen und ihrer Gestalt einigen Eindruck gewonnen. Ein Dilemma, das indes nicht den moralischen Dilemmata im eigentlichen Sinne zugehört, bleibt jedoch noch: Wie soll der Solipsist handeln, wenn das Leiden eines Wesens der Außenwelt nur zum Preise seines eigenen Wohlergehens zu verhindern wäre, das heißt er selbst dafür schweres Leid, oder gar den Tod auf sich nehmen müsste? An dieser Fragestellung zeigt sich die Grenze des solipsistisch motivierten altruistischen Handelns. Denn schweres Leid, welches das Ich selbst betrifft, affiziert sein Gemüt – es sei denn, es ist in einen völligen Heiligen geworfen – weitaus stärker durch den ganz unmittelbaren Schmerz als alles Leid in den Wesen der Außenwelt, welches das Gemüt nur mittelbar affiziert: Sodass der Solipsist in diesem Falle sich selbst vor dem Leiden bewahren wird. Ganz besonders und zwangsläufig muss dies für ein Szenario gelten, in welchem er sein Leben geben müsste. Denn während es in der herkömmlichen Weltsicht durchaus möglich wäre, das eigene Leben für das Wohlergehen eines anderen zu opfern, ist dies in der solipsistischen Sichtweise unmöglich: Mit dem Tode des Ichs endet sein Bewusstsein und damit die Welt überhaupt, sodass das Wohlergehen des anderen gar nicht mehr statthaben kann. Ein solches Selbstopfer ist darum für den Solipsisten unsinnig. So weit reicht die solipsistische Ethik also denn doch nicht, ein derart moralisches Verhalten gibt sie nicht her: So kann man reden, wenn man traditionelle Ethiken als Maßstab zugrundelegt und das Adjektiv „moralisch“ in deren Sinne gebraucht (wie es durchweg in dieser Schrift geschah, bis sich aussagen ließ, was denn nun eigentlich moralisch im Sinne der solipsistischen Ethik ist). Im Rahmen der solipsistischen Ethik ist eine solche Aussage natürlich sinnlos, da das Selbstopfer in ihrem Sinne unmoralisch ist. Erst in der Sichtweise von traditionellen ethischen Systemen, die das Selbstopfer vielleicht nicht als geboten, sicher jedoch nicht als unmoralisch ansehen, erscheint dieser gewisse egoistische Zug der solipsistischen Ethik als ethische Anomalie, als unmoralische Lehre.
Jedoch sollte die Größe der Diskrepanz zwischen dem solipsistisch und traditionell Moralischen, genauso wie die Bedeutung der „egoistischen“ solipsistischen Lehre, das Selbstopfer zu verwerfen, nicht übertrieben werden: Denn im Großen und Ganzen ist die solipsistische eine durch und durch altruistische und menschenfreundliche Ethik, in welcher keine abstrakten Normen, sondern die Regungen des Gemüts, insbesondere das Mitleid und die Mitfreude, die wesentliche Rolle spielen.
Auch kann die solipsistische Ethik als eine überaus natürliche und intuitive Ethik bezeichnet werden, in zweifacher Hinsicht. Zum einen spricht sie in großen Teilen nur deutlich aus, was in intuitiver Weise ohnehin als das ethisch Richtige bewusst ist. Zum anderen aber begründet sie sich in einem der für ein empfindendes Wesen intuitivsten und offensichtlichsten Prinzipien überhaupt, dem Konzept von Gutheit und Schlechtheit im Gemüte; weiterhin beruht sie auf dem – zumindest für ein Zoon politikon – ebenfalls sehr intuitiven Konzept, dass vermittelst des Mitleids Leiden in den Wesen der Außenwelt eng mit der Schlechtheit im Gemüte zusammenhängt. Zu diesen intuitiven Konzepten fügt sie den zwar weniger intuitiven, jedoch nicht minder bedeutsamen, genuin solipsistischen Gedanken von der monistischen Natur der Wirklichkeit hinzu, wonach das eigene Bewusstsein und die Welt identisch sind; welcher gerade in ethischer Hinsicht nicht geringe Kraft entfaltet, hat er doch zur bemerkenswerten Konsequenz, dass das Leiden meines Nächsten in meinem eigenen Bewusstsein stattfindet.
So viel also zum Wesen und Charakter der solipsistischen Ethik. Auf die eingangs gestellte Frage, warum ein Solipsist moralisch handeln solle, hat diese Schrift ausgiebige Antwort gegeben und damit die Gleichsetzung von Solipsismus und Egoismus grundsätzlich widerlegt. Weiter haben wir an exemplarischen Fällen gezeigt, dass sich aus der solipsistisch begründeten Ethik konkrete Handlungsanweisungen für moralische Zweifelsfälle durchaus ableiten lassen, und sie damit als vollwertige ethische Lehre erwiesen.
So bleibt denn am Ende nur noch, all die Theorie in einen Imperativ zu wenden: Lasse dich beim Umgang mit deinen Mitgeschöpfen, Mitmenschen und Tieren, stets vom Mitleid leiten; verhindere, so gut es geht, Leid und Schmerz in der Welt, die doch dein Bewusstsein ist, in ihrem inneren wie äußeren Teil; und suche sie, so schwer es auch sein mag, in Einklang mit sich selbst zu bringen.