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Über die immanente Weltanschauung

Einen großen Teil unseres Lebens über denken wir in der immanenten Weltanschauung, welche wir in der Metaphysik eingeführt haben: der auf Erfahrung und Intuition aufgebauten, „gewöhnlichen“, dem „gesunden Menschenverstand“ entsprechenden Sicht auf die Welt. Zwar erhebt die in der Metaphysik dargelegte Weltsicht den Anspruch, letztgültiger als die immanente Weltanschauung und im grundlegendsten möglichen Sinne wahr zu sein, doch lassen sich aus ihr keinerlei Handlungsanweisungen ableiten. Deshalb kann es selbst von deren Standpunkt aus betrachtet nicht falsch sein, nach der immanenten Weltanschauung zu leben. Man kann darum wohl kaum behaupten, dass die immanente Weltanschauung von größerer Wichtigkeit sei, denn was könnte wichtiger sein als das, was a priori wahr ist? Doch man muss zugeben, dass sie die bei weitem größere Rolle spiele.

Aus diesem Grunde wollen wir in dieser Schrift den Versuch einer Darstellung der immanenten Weltanschauung machen. Allerdings müssen wir hier sogleich eine Eingrenzung vornehmen: Denn während es nur ein einziges, a priori gegebenes Gebäude des absolut Wahren gibt, ist es keineswegs zur Gänze eindeutig, wie die immanente Weltanschauung beschaffen ist und ihre genaue Ausgestaltung ist durchaus subjektiv; sodass man fast eher von verschiedenen, wiewohl verwandten, immanenten Weltanschauungen als von der einen immanenten Weltanschauung sprechen muss. Außerdem ist eine immanente Weltanschauung in ihrer Gesamtheit notwendigerweise riesig und ständig im Wandel, da sie zu allen möglichen Themen Ansichten und Wissen enthält. Deshalb soll es hier nicht um die einzelnen Inhalte und Details gehen, sondern wir wollen nur die wichtigsten Grundsätze darstellen und Probleme und Grenzen aufzeigen; die Grundsätze sollen so allgemein gehalten sein, dass die meisten Menschen einer modernen und vernünftigen Gesellschaft mit ihnen einverstanden sein und sie als Teil ihrer immanenten Weltanschauung betrachten können.

Vorausschicken müssen wir ebenfalls, dass es im strengen Sinne für eine immanente Weltanschauung keine Rechtfertigung gibt und geben kann. Das Gebäude des absolut Wahren hat als Rechtfertigung, dass es a priori gegeben ist; doch hier kann man keine weitere nennen, als dass diese Weltanschauung eben auf Erfahrung und Intuition, dem sogenannten gesunden Menschenverstand, beruht. Darum werden wir nie eine Begründung für die folgenden Sätze angeben können, als dass sie aus eben diesen Quellen stammen, wodurch sie aber wohl den meisten einleuchten dürften.

Das erste prägende Element der immanenten Weltanschauung ist die Naturwissenschaft; verwunderlich ist das kaum, denn was ist Naturwissenschaft anderes als zu allgemeinen Gesetzen und Tatsachen veredelte Erfahrung? Allerdings wollen wir hier außer ihrer Hochform, der „wissenschaftlichen“ Naturwissenschaft, auch die „intuitive“ dazuzählen; beispielsweise gehört die bloße Erwartung, dass ein Gegenstand zu Boden fällt, zu dieser intuitiven Naturwissenschaft.

Die Naturwissenschaft allgemein ist überaus leistungsstark und sorgt für eine große Fülle an Wissen. Sie ist gleichsam das Grundgerüst der immanenten Weltanschauung und bestimmt ihre allgemeinste Weltsicht.

Auch wenn der Induktionsschluss im Grunde genommen gar keine Begründung hat – und man ja eigentlich auch von der Vergangenheit keine sichere Kenntnis haben kann – sehen wir die einmal beobachteten Gesetzmäßigkeiten der Natur als nahezu unumstößlich und die Wirklichkeit als vertrauenswürdig an. Dies ist überaus nützlich: Einerseits lassen sich dadurch die Vorgänge der Umgebung sehr gut vorhersehen und es werden unzählige praktische Anwendungen möglich, andererseits vermag die immanente Weltanschauung dank der Naturwissenschaft auf einige grundlegende Fragen Antworten zu geben, wie jene, warum es Menschen gibt, wie das Universum im ganz Großen und ganz Kleinen aussieht, ja sogar zu Teilen die, warum es dieses überhaupt gibt. Dennoch kann sie die Wirklichkeit und die Welt nicht völlig ergründen, auch wenn ihre Leistungen noch so beachtlich sein mögen.

Die Mathematik spielt zwar eine Sonderrolle, da ihre Erkenntnisse von einer ganz anderen Art als die der Naturwissenschaft sind, sie sei der Einfachheit halber aber beim naturwissenschaftlichen Weltbild mitaufgeführt, insbesondere da erkenntnistheoretische Überlegungen in der immanenten Weltanschauung keine allzu große Rolle spielen und naturwissenschaftliche und mathematische Erkenntnis sich formal ähnlich sind.

Jedenfalls sind das Vertrauen in die Naturwissenschaft, deren Erkenntnisse und ihr Weltbild sowie die Mathematik grundsätzlich ein zentraler Bestandteil der immanenten Weltanschauung.

Doch sie besitzt noch ein weiteres, genauso wichtiges Element; dieses ist schwieriger zu beschreiben, aber man könnte es in einer aus der Wissenschaftsordnung stammenden Analogie im Gegensatz zur natur- die geisteswissenschaftliche Weltsicht nennen. Diese ist geprägt von ihrer Grundannahme, dass es etwas wie Bewusstsein, Geist in der Welt gibt.

Die Existenz von Bewusstsein lässt sich naturwissenschaftlich nicht erklären, auch wenn das oft behauptet wird; nach naturwissenschaftlicher Weltsicht müsste ein noch so komplexes Gehirn nichts weiter als zwar komplexe, aber bewusstseinslose Materie sein. Dennoch lehren uns der gesunde Menschenverstand und Erfahrung, dass es etwas wie Bewusstsein gebe, und zwar nicht nur bei uns selbst, sondern auch bei anderen Menschen und auch Tieren, womöglich sogar noch andernorts. Das beinhaltet nicht die Ansicht, bewusstseinstragende Materie verhalte sich nicht nach den naturwissenschaftlichen Gesetzen oder das Bewusstsein sei von dieser unabhängig; wenn es auch praktisch nur begrenzt möglich ist, könnte rein theoretisch auch das geisteswissenschaftliche Weltbild naturwissenschaftlich beschrieben werden, eben indem man die bewusstseintragende Materie beschriebe; aber dass überhaupt Bewusstsein mancher Materie innezuwohnen scheint, lässt sich naturwissenschaftlich nicht erklären und macht das geisteswissenschaftliche Weltbild aus.

Wir haben also zwei zueinander konträre Weltsichten, die ganz grundsätzlich unvereinbar miteinander sind, nach unserer Erfahrung und Intuition jedoch beide gleichberechtigt wahr sind.

In dem geisteswissenschaftlichen Weltbild denken wir im Grunde genommen noch häufiger als im naturwissenschaftlichen; es ist die Grundlage jeder menschlichen Interaktion, da dabei mehrere Bewusstseine, denkende Subjekte vorgestellt werden müssen. Weiterhin beruht alles Geistige darauf, wie Vorstellungen über Sprache, Literatur, Geschichtswissenschaft usw., zum Teil auch die Philosophie. Und schließlich wird es uns selbst immerzu dadurch bewusst, dass wir ja gerade jetzt denken, existieren. Auch aus dieser Weltsicht erwächst natürlich eine große Fülle an Wissen, insbesondere auch, da sich eine Reihe von Wissenschaften auf ihrem Fundament entwickelt hat und sie somit wie die naturwissenschaftliche eine Hochform besitzt.

Diese beiden Elemente sind es, die unser Bild von der Welt insgesamt ausmachen. Zur immanenten Weltanschauung gehören aber natürlich außer der bloßen Weltsicht auch Handlungsmaximen, und zwar sind diese ganz einfach: Strebe du selbst nach Glücklichkeit und beeinträchtige möglichst kein Wesen, das dem gesunden Menschenverstand zufolge Bewusstsein und Empfindungen besitzt, in seiner Glücklichkeit und seinem Wohlergehen, ja wenn möglich, fördere sie sogar.

Diese Regel ist natürlich sehr allgemein gehalten und es bedarf stets und in allen Situationen einer genauen Abwägung bei ihrer Anwendung. Schon die Begriffe „Glücklichkeit“ und „Wohlergehen“ sind ganz generelle, dafür aber hat der Satz Allgemeingültigkeit; wodurch man selbst und andere glücklich sind, kann ganz unterschiedlich und auch wandelbar sein. Einer genaueren Definition, was überhaupt Glücklichkeit sei, bedarf es wohl nicht, denn Erfahrung und Intuition lehren uns, was man darunter zu verstehen habe; auch wenn man sich an einer solchen versuchen wollte, müsste diese wohl ihrerseits auf Begriffe zurückgreifen, die nur durch Erfahrung und Intuition gegeben sind, weshalb ein derartiges Unterfangen letztlich sinnlos wäre.

Was den Terminus „Wesen mit Bewusstsein“ betrifft, so ist auch speziell diesbezüglich eine Abwägung nötig; hier sind verschiedene Abstufungen zu berücksichtigen, denn während höherentwickelte Tiere eindeutig ein Bewusstsein zu haben scheinen, ist es bei einfacheren Tieren höchstens ein ganz rudimentäres. Dementsprechend hat auch das jeweilige Wohlergehen unterschiedlichen Vorrang, den höchsten hat wohl dasjenige des Menschen.

Es ist klar, dass diese Verhaltensregeln ihre Motivation im geisteswissenschaftlichen Weltbild haben, denn nur in diesem haben Ausdrücke wie „Glücklichkeit“ und „Bewusstsein“ Sinn, ja jegliche Handlungsanweisungen sind nur sinnvoll, wenn man von Bewusstein ausgeht. Die naturwissenschaftliche Weltsicht spielt dafür aber bei ihrer Ausführung eine wichtige Rolle, da die materiellen Vorgänge und Zustände für die Glücklichkeit von größter Bedeutung sind.

Dies sind die wichtigsten Grundzüge der immanenten Weltanschauung; schließlich sollen noch ihre Probleme und Grenzen benannt werden, von denen es innere und äußere gibt. Die inneren sind bereits erwähnt worden, es sind jene, die aufgrund der Unvereinbarkeit zwischen natur- und geisteswissenschaftlichem Weltbild entstehen, aber auch innerhalb dieser Weltbilder selbst sind mannigfaltige Unstimmigkeiten vorhanden.

Die äußeren Grenzen werden immer dann offensichtlich, wenn tiefergehende Fragen auftauchen, auf welche die immanente Weltanschauung nicht mehr zu antworten vermag. Das soll nicht heißen, es seien keine grundlegenderen Betrachtungen und Aussagen in der immanenten Weltanschauung, wie wir sie hier beschrieben haben, möglich; aber wenn einmal wirklich letzte Fragen aufkommen, wie etwa wie der Widerspruch von Subjektivität und Objektivität aufzulösen sei, ob man wirklich Wissen über Vergangenheit und Zukunft besitzen könne, was die Natur mathematischer Objekte sei oder warum es etwas und nicht nichts gebe, welche auf das Gebäude des absolut Wahren weisen, dann muss diese immanente Weltanschauung verstummen.

Solange man aber in der immanenten Weltanschauung denkt, was man, wie erwähnt, fast alle Zeit tut – wie oft denkt man auch schon in der Weltsicht der Metaphysik? –, ist es möglichst zu vermeiden, diesen Grenzen zu begegnen, damit einem nicht vor Augen geführt werde, wie problematisch die immanente Weltanschauung in Wirklichkeit bleibt, was ihrem eigentlichen Zwecke, nämlich ein Leitfaden für das tägliche Leben zu sein, ja dieses überhaupt erst möglich zu machen, zuwiderliefe. Allzu schwierig ist dies dann aber doch wieder nicht: Denn die immanente Weltanschauung ist so groß, dass man, wenn man es darauf nicht gerade absieht, ihren Grenzen nie begegnen zu braucht, und man ganz darin aufgehen kann, wenn man möchte.

Soviel zu den Grundzügen der immanenten Weltanschauung: dieser durch und durch paradoxen Erscheinung, die zwar zweifellos im letztgültigen Sinne falsch ist, indes nicht nur eine gewaltige praktische Bedeutung besitzt, sondern auch trotz all ihrer Probleme und Begrenzungen geradezu unerklärlichen Erfolg darin hat, für das Leben in dieser Welt als Leitfaden zu dienen.