Zum Problem des Augenblicks
Zu den schwierigsten Problemen der Metaphysik gehört das Problem des Augenblicks. Ja eigentlich handelt es sich um einen ganzen Kreis von eng zusammenhängenden Problemen, die allesamt den Verstand auf das Äußerste herausfordern und an die Grenzen dessen führen, was er überhaupt zu denken vermag. Die grundlegende Fragestellung ist folgende: Wie lässt sich die Möglichkeit einer zeitlichen Abfolge verschiedener Wirklichkeiten konstruieren, wenn wir durch unsere Wahrnehmung doch nur Zugang zur Gegenwart, mithin einem einzigen Augenblick haben? Wohlgemerkt geht es hier nur um die Konstruktion der Möglichkeit einer zeitlichen Abfolge. Denn ihr tatsächliches Vorhandensein zu beweisen ist unmöglich; niemals kann nämlich ausgeschlossen werden, dass wir gerade in diesem Augenblick erst ins Dasein getreten sind und in diesem auch schon wieder ins Nichts zurückkehren; oder aber, dass die Wirklichkeit, die wir jetzt wahrnehmen, die Wirklichkeit schlechthin ist, das heißt dasjenige, was wirklich ist, schon immer wirklich war und immer wirklich sein wird. Aber auch schon die prinzipielle Möglichkeit eines zeitlichen Aufeinanderfolgens von unterschiedlichen Wirklichkeiten zu konstruieren ist äußerst schwer. Denn wie will man von zeitlichen Aspekten der Wirklichkeit reden, wenn die Wirklichkeit, aus welcher allein wir alles nicht-triviale Wissen über die Wirklichkeit erlangen können, naturgemäß nur als Gegenwart existiert? Dass die Struktur des Wirklichen intuitiv das Vorhandensein von Zeit nahelegt, ja dass dadurch der Verstand überhaupt erst in der Lage ist, über zeitliche Strukturen nachzudenken, kann in einer metaphysischen Betrachtungsweise, bei welcher die Intuition ganz außer Acht gelassen werden muss, keine Berücksichtigung finden; wiewohl das drastische Auseinanderklaffen der Offensichtlichkeit der zeitlichen Ordnung des Wirklichen im Rahmen der auf Intuition basierenden immanenten Weltanschauung einerseits und der Schwierigkeit, die diese dem Metaphysiker bereitet, andererseits, eine Rätselhaftigkeit ganz eigener Art begründet.
Im Gefolge der beschriebenen zentralen Problematik ergibt sich eine Reihe ähnlich schwieriger Fragestellungen: Die Frage nach der Art der Wahrheit von Aussagen über das jetzt, ehemals und zukünftig Wirkliche; das Problem der Art und des Wesens einer zeitlichen Ordnung, das heißt Fragen nach Kontinuum und Diskretheit, nach der Natur des Augenblicks und der zeitlichen Abfolge; und schließlich auch protologische und eschatologische Fragen, also zum Anfang und Ende der Zeit und zur Ewigkeit.
Dass alle diese Fragen so ungemein schwierig sind, liegt letztlich in der enigmatischen Natur des Wirklichen begründet. Dies bringt es mit sich, dass wir hier keine vollständige Lösung werden vorstellen können, zumal auch zum Teil das Gebiet der unergründlichen Fragen berührt ist, die sich prinzipiell nicht beantworten lassen. Dennoch wollen wir der Versuch einer eingehenderen Diskussion der angesprochenen Aspekte machen. Es soll damit nicht die Darstellung des Themas in der Schrift Metaphysik in Frage gestellt werden; stattdessen geht es darum, jene Darstellung auf ein sichereres Fundament zu stellen und auszubauen.
Obwohl wir den Versuch wagen wollen, eine zeitliche Ordnung zu konstruieren, muss unsere Diskussion doch zumindest ausgehen von der Gegenwart als dem allein Wirklichen. Der Stift, mit dem ich diese Worte schreibe, und das Blatt, das sie aufnimmt, sind wirklich: Dies ist eine unumstößliche, sich ganz unmittelbar aufdrängende Gewissheit. Ohne jeden Zweifel handelt es sich um eine wahre Aussage. Sagen wir allerdings in voller Allgemeinheit: Wirklich ist, was wahrgenommen wird; so handelt es sich nicht nur um eine wahre, sondern auch um eine a priori und notwendig wahre Aussage, das heißt ihr Unwahrsein lässt sich noch nicht einmal denken. Für die Aussage „Dieser Stift wird wahrgenommen und ist darum wirklich“ hingegen ist das anders. Sie ist, wie gesagt, ohne jeden Zweifel wahr, aber eben nicht notwendig wahr. Es bereitet dem Verstande keine Probleme, zu denken, dass etwas anderes oder auch dass nichts wirklich wäre. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt. Denn die Unterscheidung zwischen notwendig und nicht notwendig Wahrem ist der Ausgangspunkt für die Konstruktion einer zeitlichen Ordnung.
Für alles Geistige gilt: Die Tatsache, dass es ist, ist notwendig wahr. Dies verleiht dem Geistigen seine platonische Natur, eine absolute Existenz, die außerhalb aller Zeit stehen muss. Für das Geistige eine zeitliche Ordnung zu postulieren, ist darum ganz unmöglich. Anders verhält es sich mit dem Wirklichen, eben da was wirklich ist nicht notwendig wirklich ist: Es könnte auch etwas anderes oder nichts wirklich sein. Das allein heißt natürlich noch nichts. Um von dieser Tatsache aus zur zeitlichen Ordnung zu gelangen, ist immer noch ein gewaltiger Sprung zu tun; dass das Wirkliche nicht notwendig wirklich ist, gibt uns nur die Möglichkeit, zu diesem Sprung überhaupt erst anzusetzen; tun müssen wir ihn dann immer noch. Dieser gewaltige Sprung besteht darin, von der Aussage, dass prinzipiell etwas anderes wirklich sein könnte als was wirklich ist, überzugehen zu der Annahme, dass die Wirklichkeit dieses anderen hypothetisch Wirklichen auch tatsächlich realisiert sein kann. Dieses Realisiertsein ist hier gerade die Krux. Denn was haben wir uns darunter vorzustellen? Schließlich ist etwas entweder wirklich oder es ist es nicht. Was also soll es heißen, wenn wir davon sprechen, dass die Wirklichkeit eines Objekts, das nicht wirklich ist und darum rein geistig, dennoch realisiert ist? Um diesen Ausdruck zu konstruieren, kommen wir nicht ganz umhin, gewisse Begriffe zu verwenden, deren Gehalt durch Erfahrung und Intuition gegeben ist, auch wenn wir diese auf das Nötigste beschränken und zur allgemeinsten quasi-apriorischen Form abstrahieren wollen. Dass wir dennoch nicht ganz darauf verzichten können, ist der Grund, weshalb wir den Übergang von der Hypothetik einer anderen Wirklichkeit zur Möglichkeit der tatsächlichen Realisierung dieser anderen Wirklichkeit im Rahmen der rein metaphysischen Betrachtungsweise als Sprung bezeichnen müssen.
Uns zu rechtfertigen dafür, dass wir diesen dennoch tun, fällt nicht ganz leicht, auch wenn letztlich jedwede metaphysische Betrachtung immer und zwangsläufig von der immanenten Weltsicht ausgeht und die Vorprägung durch Erfahrung und Intuition nie ganz abstreifen kann. Wir müssen uns jedoch andererseits vor Augen führen, dass man niemals Unrecht damit haben kann, die Möglichkeit von etwas zu postulieren, wie wir dies im Falle der zeitlichen Ordnung tun; Unrecht kann man nur haben, wenn man die Möglichkeit von etwas verneint hat. Und diese Tatsache reiche uns zur Rechtfertigung hin.
Die quasi-metaphysischen Begriffe, derer wir uns bedienen wollen, sind sich ändern und werden (im Sinne von französisch devenir und englisch become). Quasi-metaphysisch sind diese in der Tat, denn einerseits muss ihr Inhalt letztlich Erfahrung und Intuition entnommen werden, da wir als Wesen der Gegenwart Änderung und Werden nicht wahrnehmen können; andererseits aber stellen sie das Ergebnis größtmöglicher Abstraktion dar: Es handelt sich um weitaus fundamentalere und allgemeinere Begriffe als denjenigen der zeitlichen Ordnung.
Diese Begriffe erlauben uns, die tatsächliche Realisierung von hypothetisch Wirklichem zu konstruieren, ohne den apriorischen Satz zu verletzen, dass etwas entweder wirklich ist oder nicht. Wir können nun sagen: Es ändert sich, was wirklich ist; Geistiges, das nicht wirklich ist, wird wirklich, während Geistiges, das wirklich ist, nicht-wirklich wird. Die Änderung etabliert eine eindeutige Ordnungsrelation zwischen zwei beliebigen Wirklichkeitseinheiten, das heißt Einheiten der Änderung, die konstituiert werden durch Mengen von Geistigem, deren Elemente gemeinsam realisiert sind. Die dafür in der Schrift Metaphysik eingeführte Bezeichnung der Vor-Nach-Ordnung wollen wir hier ebenfalls verwenden. Ändert sich die Wirklichkeit von einer Wirklichkeitseinheit A zu einer anderen Wirklichkeitseinheit B, so sagen wir, dass A vor B und B nach A ist. Diese Relation besteht für jedes Paar von zwei Wirklichkeitseinheiten und ist überdies transitiv, das heißt aus B nach A und C nach B folgt C nach A. Es ist wichtig zu betonen, dass wir hier nicht fordern, dass für zwei beliebige Wirklichkeitseinheiten A und B nur eine endliche Anzahl an anderen bestehen kann, die zwischen A und B liegen, das heißt nach A und vor B sind (oder umgekehrt, falls B vor A ist). Täten wir dies, so würden wir postulieren, dass die Änderung der Wirklichkeit diskret sei. Dies ist zwar möglich, ergibt sich aber nicht zwingend aus dem allgemeinsten Begriff der Änderung. Genauso gut können auch zwischen beliebigen A und B unendlich viele (abzählbar genauso gut wie überabzählbar unendlich viele) Einheiten liegen, das heißt die Änderung der Wirklichkeit wäre als kontinuierlich zu betrachten. Oder aber es lässt sich gar keine derart allgemeine Aussage treffen, und zwischen manchen A und B liegen endlich, zwischen anderen unendlich viele Einheiten, sodass die Wirklichkeit sich bald in diskreter, bald in kontinuierlicher Form änderte.
In der Metaphysik haben wir darüber hinaus die Menge „des Geistigen, das wirklich war, ist oder sein wird“ eingeführt als die Gesamtheit aller realisierten Wirklichkeitseinheiten, welche sich aufteilt in jene, die „waren“, das heißt in einem Vor-Verhältnis stehen zu derjenigen, die wirklich ist, jene, die „sein werden“, also dazu in einem Nach-Verhältnis stehen, und die Wirklichkeitseinheit, die wirklich ist, selbst. Wir wollen diese Menge, deren Elemente die Wirklichkeitseinheiten darstellen, im Folgenden auch als metaphysische Menge bezeichnen. Die Stellung dieser Menge ist eigentümlich: Denn Zugang zu ihr besitzen wir nicht, was sie in gewisser Hinsicht zu einer rein theoretischen Konstruktion macht und Betrachtungen darüber einen entweder aporetischen oder spekulativen Zug verleiht; wiewohl einer Konstruktion, die sich aus dem Konzept der Änderung der Wirklichkeit zwangsläufig ergibt. Eigentümlich aber ist sie auch in epistemologischer Hinsicht. Aussagen über geistige Entitäten sind absolut, das heißt notwendig wahr; sowohl Aussagen über das, was wirklich ist, als auch über die metaphysische Menge sind hingegen wahr, aber nicht notwendig wahr. Doch gibt es im Charakter der Wahrheit dieser beiden Arten von Aussagen wiederum eine Abstufung, welche sich in gewisser Weise zurückführen lässt auf den Sprung, den wir bei der Konstruktion der zeitlichen Ordnung von der Hypothetik alternativer Wirklichkeiten zu deren Realisierung tun mussten. Denn die Annahme von Änderung hat zur Folge, dass das Wesen der Aussage „Der Stift, mit dem ich diese Worte schreibe, ist wirklich“ verschieden ist von jenem der Aussage „Der Stift, mit dem ich diese Worte schreibe, gehört der metaphysischen Menge an“. Jene ist der Änderung unterworfen, diese nicht. Wir können darum das nicht absolut, das heißt relativ Wahre unterteilen in veränderlich und unveränderlich Wahres: Aussagen über das, was wirklich ist, sind veränderlich wahr, solche über die metaphysische Menge hingegen unveränderlich wahr. Epistemologisch besitzt diese darum eine sonderbare Mittelstellung zwischen der Menge des Wirklichen und der gesamten Menge des Geistigen. Alle drei Arten von Wahrem erhalten wir aus unserer Wahrnehmung: Denn was wir wahrnehmen, ist gleichzeitig wirklich, geistig und gehört der metaphysischen Menge an. Unser sonstiges Wissen beschränkt sich auf einige wenige, beinahe tautologische allgemeine metaphysische Aussagen.
Wir müssen uns nun einer Schwierigkeit zuwenden, welche wir bisher stillschweigend außer Acht gelassen haben: dem Problem zweier exakt identischer Wirklichkeitseinheiten, dessen Behandlung, so technisch es auch anmuten mag, uns doch Gelegenheit zu einigen tiefergehenden Betrachtungen zum Wesen der Wirklichkeitseinheiten gibt. Es stellt sich wie folgt dar: Können verschiedene Elemente der metaphysischen Menge identisch sein in dem Sinne, dass die Menge an Geistigem, die sie jeweils konstituiert, dieselbe ist? Denn wenn ihr Inhalt identisch ist, in welcher Weise können wir da von einer Änderung von der einen zur anderen Wirklichkeitseinheit sprechen? Die Schwierigkeit lässt sich vollständig vermeiden, indem man, wie in der bisherigen Betrachtung implizit geschehen, annimmt, dass alle Wirklichkeitseinheiten grundsätzlich aus einer jeweils anderen Menge an Geistigem konstituiert sind; das mag zwar im immanenten Sinne plausibel erscheinen, ist metaphysisch jedoch nicht zwingend. Eine Änderung im eigentlichen und strengen Sinne von Wirklichkeitseinheit A zu Wirklichkeitseinheit B erfordert zwar zweifellos, dass A dem Inhalt nach verschieden ist von B. Es ist nun aber der Fall denkbar, dass A sich im strengen Sinne zu B ändert und dieses sich wiederum im strengen Sinne zu C ändert, und C dem Inhalt nach identisch ist mit A, da die Änderung nur die Verschiedenheit zwischen A und B sowie B und C erfordert. Man kann dann sagen, dass A sich im weiteren Sinne zu C ändert. Dieser erweiterte Änderungsbegriff aber ist es, den wir unseren Betrachtungen zugrundelegen müssen. Denn da die Wirklichkeit in diesem Falle A tatsächlich verlässt und dann erst C wirklich wird, müssen A und C echt verschiedene Wirklichkeitseinheiten sein. Das aber bedeutet, dass eine Wirklichkeitseinheit nicht allein durch ihren Inhalt, das heißt die Menge an Geistigem, die sie konstituiert, charakterisiert sein kann; sondern wir müssen uns die Wirklichkeitseinheiten zusammengesetzt vorstellen aus ihrem Inhalt und einem absolut distinktivem Attribut, das heißt einem derart beschaffenen Attribut, dass jede Wirklichkeitseinheit unter Einschluss dieses Attributs von allen anderen verschieden und somit eindeutig identifiziert ist. Auf die konkrete Gestalt der Attribute kommt es dabei nicht an; eine simple Umbenennung, das heißt eine Ersetzung der Attribute durch andere Attribute, welche die Vor-Nach-Ordnung erhält und den einem Attribut jeweils zugehörigen Inhalt gleich belässt, ändert die metaphysische Menge offensichtlich nicht. Die Attribute indizieren also die Wirklichkeitseinheiten. Dass zwei Wirklichkeitseinheiten nur dem Attribut, nicht aber dem Inhalt nach verschieden sind, ist nur möglich, wenn es eine andere Wirklichkeitseinheit gibt, die zwischen beiden liegt und von ihnen auch dem Inhalt nach verschieden ist. Beispielsweise könnten die Attribute zu einer Menge an Wirklichkeitseinheiten die natürlichen Zahlen sein, mit den Vorschriften, dass von zwei Wirklichkeitseinheiten diejenige mit der größeren natürlichen Zahl nach derjenigen mit der kleineren ist, und dass der Inhalt für gerade natürlich Zahlen eine Menge von Geistigem A und für ungerade Zahlen eine Menge von Geistigem B ist. Oder es wäre auch eine überabzählbare Menge an Wirklichkeitseinheiten mit den reellen Zahlen als Attributen denkbar, wiederum mit der Spezifikation, dass die größere reelle Zahl nach der kleineren ist, und mit der Vorgabe, dass für rationale Zahlen der Inhalt A ist und für irrationale Zahlen B; dies wäre erlaubt, da zwischen zwei rationalen Zahlen stets eine irrationale Zahl liegt und umgekehrt. Beide Szenarien sind freilich in einem – wie sich später herausstellen wird – durchaus spezifizierbaren Sinne als sehr exotische Möglichkeiten für die Gestalt der metaphysischen Menge zu betrachten und waren zuvörderst um des Beispiels willen gewählt. Unmöglich hingegen ist es, dass in der metaphysischen Menge Wirklichkeitseinheiten des gleichen Inhalts unmittelbar aufeinanderfolgen. Denn wenn sie dem Inhalt nach identisch sind, ist es schlicht sinnlos, davon zu sprechen, dass die Wirklichkeit die eine verlässt und die andere wirklich wird.
Es ergibt sich, dass ohne Änderung des Wirklichen von einer endlichen Ausdehnung in der Zeit gar nicht gesprochen werden kann. Dieselbe manifestiert sich überhaupt nur in einer Abfolge verschiedener Wirklichkeiten und ist keine absolute Größe, welche unabhängig vom Inhalt der Wirklichkeitseinheiten definiert werden könnte. In der Metaphysik ist davon die Rede, dass zugleich zum Wirklichsein einer Wirklichkeitseinheit die Wirklichkeit diese Wirklichkeitseinheit verlässt, welches eine immanente Metapher darstellt für die Tatsache, dass einer einzelnen Wirklichkeitseinheit mit einem bestimmten Inhalt an Geistigem keine zeitlich ausgedehnte Existenz zugesprochen werden kann, sich vielmehr die Zeitlichkeit – wenn überhaupt – im Aufeinanderfolgen von Wirklichkeitseinheiten konstituiert.
Ein anderer bisher weitgehend übergangener, für unsere Überlegungen zur metaphysischen Menge jedoch ganz wesentlicher Aspekt ist die Möglichkeit der völligen Abwesenheit von Wirklichem, das heißt einer Wirklichkeitseinheit mit leerer Menge als Inhalt, oder – drastischer ausgedrückt – die Möglichkeit des totalen Nichts. Wenn wir uns vorstellen können, dass etwas Anderes wirklich sein könnte, und daraus die Möglichkeit der Realisierung dieses Anderen im Rahmen einer zeitlichen Ordnung folgern, so muss uns die Tatsache, dass wir uns – wenn auch sehr viel schwerer – auch das Nichtsein von Wirklichem vorstellen können, ebenso zu dem Schluss führen, dass das Nichts im Rahmen der zeitlichen Ordnung realisiert sein kann. Dennoch ist das Nichts fundamental verschieden von jedweder denkbaren Wirklichkeit. Es kann zwar formal als Wirklichkeitseinheit betrachtet werden, deren Inhalt schlicht durch die leere Menge gegeben ist; doch ist schon die leere Menge an sich vor allen anderen denkbaren Mengen ausgezeichnet. Sie gehört jeder beliebigen Potenzmenge, das heißt Menge der Teilmengen, an und nimmt doch in allen eine Sonderrolle ein insofern, als sie deren eigentliches Wesen in sich verneint. Auch wenn das Nichts als Wirklichkeit mit der leeren Menge als Inhalt betrachtet werden kann, ist es dementsprechend in einer anderen Hinsicht auch keine Wirklichkeit. Die erstere Sichtweise geht vom Wirklichen aus und klassifiziert auch das Nichts nach dessen Schema, wonach es eine leere Wirklichkeit ist, die letztere trägt hingegen der radikalen Verschiedenheit des Nichts von den nichtleeren Wirklichkeiten Rechnung; welche auch für sich hat, dass die Existenz von etwas Wirklichem das Innaturalissimum, den unnatürlichsten Zustand überhaupt darstellt.
In jedem Fall ergibt sich aus dem Wesen des Nichts, dass es ebenso sinnlos ist, von einem Nichts zwischen zwei Wirklichkeitseinheiten zu sprechen wie von direkt aufeinanderfolgenden Wirklichkeitseinheiten gleichen Inhalts. Denn da das Nichts nichts Wirkliches ist, wird es auch nicht wahrgenommen; für das Ich, die absolute wahrnehmende Instanz, kann sich deshalb die Wirklichkeit von einer nichtleeren Wirklichkeitseinheit A zu einer nichtleeren Wirklichkeitseinheit B nur unmittelbar oder aber über andere nichtleere Wirklichkeitseinheiten ändern. Ein intermediäres Nichts entzöge sich seiner Wahrnehmung und kann darum nicht sinnvollerweise als Element der metaphysischen Menge angesehen werden. Sehr wohl aber ist es möglich und auch denkbar, dass die Wahrnehmung überhaupt beginnt oder endet, das heißt die Wirklichkeit an sich ins Dasein tritt oder verlischt. Daraus folgt, dass die metaphysische Menge maximal zwei Nichtse enthalten kann: Das eine Nichts muss zu allen anderen Wirklichkeitseinheiten in einem Vor-Verhältnis, das andere zu allen in einem Nach-Verhältnis stehen. Offensichtlich kann sie genauso gut diese beiden Nichtse tatsächlich enthalten wie auch nur eines davon oder auch keines. Diese verschiedenen Möglichkeiten stellen die kosmologischen Optionen (im engeren Sinne) dar: Das Wirkliche kann schon immer existiert haben oder entstanden sein; und es kann auf ewig weiterexistieren oder irgendwann verlöschen.
Nebenbei sei hier bemerkt, dass, wo in der Metaphysik die Rede ist von einer ersten und einer letzten (nichtleeren) Wirklichkeitseinheit der metaphysischen Menge, das vorherige Entstehen aus dem Nichts beziehungsweise das darauffolgende Verlöschen ins Nichts implizit mitgemeint ist. Denn prinzipiell gibt es auch die – gewissermaßen exotische – Möglichkeit, dass eine Wirklichkeitseinheit zu allen allen anderen in einem Vor-Verhältnis steht, ohne dass vor ihr ein Nichts ist; und ebenso, dass eine Wirklichkeitseinheit zu allen anderen in einem Nach-Verhältnis steht, ohne dass nach ihr ein Nichts ist. Da man diese Szenarien als Grenzfall sich immer weniger untereinander unterscheidender, aber nicht durch einen Anfangs- oder Endpunkt begrenzter Wirklichkeitseinheiten sehen kann, sind sie nicht fundamental verschieden von dem Fall, dass es keine erste beziehungsweise keine letzte Wirklichkeitseinheit gibt; ganz im Gegensatz zu den Szenarien, in denen vor oder nach dem Wirklichen überhaupt ein Nichts steht.
Die Frage nach der ersten Wirklichkeitseinheit und dem vorangehenden Nichts ist die protologische, diejenige nach der letzten Wirklichkeitseinheit und dem darauffolgenden Nichts die eschatologische Frage. Beide sind gleichermaßen spekulativ und unbeantwortbar. Allerdings sind sie – wie schon in der Metaphysik bemerkt ist – insofern verschieden, als die protologische Frage nicht nur spekulativ, sondern auch hypothetisch und irrelevant ist; während die eschatologische Frage die relevanteste Frage unserer Existenz überhaupt darstellt, da sie deren Vorhandensein an sich berührt.
Wir sind bisher in unseren Untersuchungen ausgegangen von dem äußerst abstrakten und quasi-metaphysischen Begriff der Änderung und haben daraus das Konzept der zeitlichen Ordnung des Wirklichen in ihrer allgemeinsten Form entwickelt. Dadurch waren unsere Überlegungen in einem hohen Maße von metaphysischer Natur und können deshalb im fundamentalsten möglichen Sinne als wahr bezeichnet werden. Indes Aussagen aus dieser Sphäre sind, wie schon in der Vorrede zur Metaphysik bemerkt, quasi-skeptisch, das heißt zwar nicht rundheraus skeptisch in dem Sinne, dass die Möglichkeit von wahren Aussagen – von dieser Aussage selbst abgesehen – gänzlich verneint wird, doch nur Sätze von geringem Gehalt anerkennend, die sich bisweilen schon der Tautologie annähern. So lässt sich aus dem Begriff der Änderung, wie schon mehrfach bemerkt, überhaupt nur die Möglichkeit einer zeitlichen Ordnung außerhalb der Gegenwart konstruieren, und für deren Struktur, so sie denn existiert, ergibt sich daraus nur das Prinzip der Vor-Nach-Ordnung. Wie die metaphysische Menge, das heißt Vergangenheit und Zukunft, aber aussehen, dazu muss sich der Metaphysiker der Urteils enthalten.
Auf der anderen Seite aber ruft die Intuition ihm lautstark zu, dass er Vergangenheit und Zukunft sehr wohl kennt – nicht in allen Einzelheiten vielleicht, aber doch einen beträchtlichen Teil davon. Die Erinnerungen einerseits und die Antizipationen andererseits, die er in der Gegenwart vorfindet, scheinen Zeugnis von der Vergangenheit beziehungsweise der Zukunft abzulegen. Mehr noch, für ebendie Betrachtungen, die wir hier anstellen, für ihre Ausarbeitung im Verstande und für ihre Niederschrift, ist eine geordnete Zeitlichkeit im herkömmlichen Sinne, das heißt eine sich stetig und gesetzmäßig ändernde Wirklichkeit, mit verlässlichen Erinnerungen und Antizipationen, ganz unerlässlich.
Dieser Widerspruch ist das bekannte Paradoxon der metaphysisch-immanenten Dichotomie. Es handelt sich um ein echtes Paradoxon in dem Sinne, dass wir seine Auflösung nicht kennen. Es kann sein, dass sich die Wirklichkeit tatsächlich regelhaft und stetig entwickelt und Erinnerungen und Antizipationen die metaphysische Menge mehr oder weniger genau wiedergeben, aber genauso gut kann das auch eine Illusion sein. Der letztere Fall besitzt dabei mehrere Abstufungen. So wäre das Szenario denkbar, dass die Erinnerungen die Vergangenheit akkurat wiedergeben, jedoch die Wirklichkeit sich nach schwer oder gar nicht für den Verstand erkennbaren Regeln entwickelt; oder, dass die Erinnerungen nur zum Teil oder bloß ungefähr der Vergangenheit entsprechen; oder auch, dass überhaupt Erinnerungen und Antizipationen im Wirklichen nicht vorhanden sind, welche nämlich nicht zu seinen apriorischen Charakteristika gehören. Die schwächste Form der Intuitionsgemäßheit der metaphysischen Menge ist die bloße Stetigkeit des Wirklichen. Darunter sei zu verstehen, dass die metaphysische Menge die Form des Kontinuums besitzt, das heißt dass man ihren Elementen, den Wirklichkeitseinheiten, die reellen Zahlen als Attribute zuordnen kann, wobei sich die auf diesen übliche Ordnungsrelation auf die Elemente überträgt; und dass, vorausgesetzt dass sich eine Abstandsfunktion für die Inhalte zweier Wirklichkeitseinheiten denken lässt, der Inhalt der Wirklichkeitseinheiten als Funktion der das Attribut darstellenden reellen Zahl im üblichen mathematischen Sinne stetig ist bezüglich dieser Abstandsfunktion. Auch die rationalen statt der reellen Zahlen als Indexmenge oder, sofern der Abstand aufeinanderfolgender Wirklichkeitseinheiten hinreichend klein wäre, auch eine diskrete Ordnung der metaphysischen Menge, können noch als einigermaßen intuitionsgemäß angesehen werden. Alle anderen möglichen Gestalten der metaphysischen Menge jedoch sind vollends exotisch; so etwa das oben angeführte Beispiel einer durch die reellen Zahlen indizierten Menge, bei welcher für rationale Zahlen die Wirklichkeit in A und für irrationale in B besteht.
Wir wollen im verbleibenden Teil dieser Schrift davon ausgehen, dass die Intuition ganz und gar im Recht ist und Erinnerungen und Antizipationen ein mehr oder minder getreues Abbild von Vergangenheit und Zukunft liefern sowie das Wirkliche sich nach erkennbaren Regeln entwickelt. Dieser Schritt ist vor allem durch den rein praktischen Gesichtspunkt motiviert, dass ohne diese Annahme keine fruchtbare Diskussion möglich ist; keinesfalls hingegen durch das oft zu hörende Wahrscheinlichkeitsargument, welches hier aufgrund der rein immanenten Natur des Wahrscheinlichkeitsbegriffs keine Anwendung finden darf; wiewohl es auch schon in einer rein immanenten Argumentation in diesem Zusammenhang keine Berechtigung hat, da der Begriff auf oft wiederholte Zufallsexperimente in der Welt, nicht aber auf die Gestalt der Welt überhaupt passt.
Die nun angenommene Sichtweise kann als halbmetaphysisch bezeichnet werden, da die intuitionsgemäße Gestalt der metaphysischen Menge angenommen, ansonsten aber die metaphysische Position nicht aufgegeben wird. Innerhalb dieser halbmetaphysischen Weltsicht lassen sich vielfältige Betrachtungen anstellen; wir wollen uns hier jedoch auf den Aspekt der Zeit, den Gegenstand dieser Schrift, beschränken.
Wie sich aus den bisherigen Ausführungen ergibt, muss auch in der halbmetaphysischen Weltsicht, in welcher wir allgemein viel freier mit immanenten Begriffen operieren können, die Zeit zurückgeführt werden auf die Änderung des Wirklichen. Dies hat ein durch und durch relationales Zeitverständnis in Leibnizscher Tradition zur Folge, in schroffem Gegensatz zur Newtonschen Vorstellung einer absoluten Zeit, welche als grundfalsch anzusehen ist.
Die Quantität der vergehenden Zeit kann sich nur an der Quantität der in der metaphysischen Menge vorhandenen Änderung des Wirklichen bemessen. Letztere präzise und universell zugleich zu definieren ist allerdings kaum möglich. In der Praxis werden zu diesem Zwecke meist in der Wirklichkeit vorgefundene Vorgänge, etwa der Wechsel von Tag und Nacht, als Referenzvorgänge verwendet, anhand derer die Menge der vergangenen Zeit definiert wird. Man kann dann sagen, dass gewisse Vorgänge im Vergleich zu diesem schnell oder langsam ablaufen. Komplementär zum Konzept des Referenzvorgangs ist das Prinzip der Mehrheit der Vorgänge, wonach, sofern eine Mehrheit oder zumindest eine große Zahl an Vorgängen in der Wirklichkeit gleich schnell abläuft, diese Mehrheit zur Definition der Zeit herangezogen wird. Typischerweise wird aus dieser Mehrheit dann auch der Referenzvorgang gewählt. Letztlich ist die Wahl eines Referenzvorgangs aber beliebig und es lässt sich niemals absolut aussagen, mit welcher Geschwindigkeit ein bestimmter Vorgang abläuft, sondern immer nur relativ zu anderen Vorgängen. In der falschen Newtonschen Sichtweise ließe sich etwa die Aussage formulieren, dass alle Vorgänge in der Wirklichkeit doppelt so schnell ablaufen; in der relationalen Sichtweise hingegen ist diese sinnlos, da sich keine globale Geschwindigkeit der Vorgänge in der Wirklichkeit definieren lässt. Wiewohl auch ein Anhänger der absoluten Zeit schon zugeben müsste, dass sich praktisch eine Wirklichkeit mit doppelt so schnellen Vorgängen nicht von der gewöhnlichen unterscheiden ließe.
Ganz im Unrecht ist allerdings auch nicht die Kantsche Vorstellung der Zeit als einer fundamentalen Anschauungsform des Bewusstseins. Denn wir stellen empirisch fest, dass Änderung in der Wirklichkeit auch schon dann stattfindet, wenn keine oder kaum Vorgänge in der Außenwelt vonstatten gehen und auch kein Fluss sich ändernder Gedanken im Verstande vorhanden ist, vielmehr im Gemüte eine davon unabhängige Änderung vor sich geht, welche das Zeitempfinden des Ichs ist. Denn was allgemein als Zeitempfinden bezeichnet wird, ist letztlich eine Änderung im Gemüte, welches eine stetig größere Spanne an Zeit als vergangen empfindet. Da diese dem Ich als der absolut wahrnehmenden Instanz näher steht als alle anderen Vorgänge in der Wirklichkeit, kann sie in gewisser Weise als vorrangig bei der Zuordnung einer Zeitmenge zu einer Gesamtänderung des Wirklichen betrachtet werden. Stimmt die Zeitmenge, welche sich aus Vorgängen der Außenwelt ergäbe, nicht mit derjenigen aus dem Zeitempfinden überein, etwa weil sich die relative Geschwindigkeit der äußeren Vorgänge und des Fortschreitens des Zeitempfindens änderte, so ist also letztere als die „richtige“ Zeitmenge anzusehen. Es ist dabei jedoch zu berücksichtigen, dass einerseits das Zeitempfinden im Vergleich zu vielen äußeren Vorgängen sehr unpräzise als Zeitmaß ist, da sich der Änderung des Gemüts weit schwerer in wohldefinierter Weise eine Zeitmenge zuordnen lässt als etwa dem Wechsel von Tag und Nacht; und andererseits, dass das Zeitempfinden keineswegs ein notwendiger Bestandteil des Wirklichen ist, sondern darin empirisch vorgefunden wird; eine Wirklichkeit ohne Zeitempfinden ist problemlos denkbar und auch möglich.
Die Zuordnung einer Zeitmenge zu einer bestimmten Änderung, das heißt die Quantifizierung von Änderung, bleibt letztlich ein Unterfangen, das sich nicht immer gemäß völlig objektiven Regeln und frei von jeder Beliebigkeit, bisweilen auch gar nicht durchführen lässt. Dieser gewisse Mangel an Wohldefiniertheit des Konzepts der Zeitmenge liegt vielen Zeitparadoxien zugrunde; so den berühmten Paradoxa des Zenon von Elaia, von welchen wohl das bekannteste und anschaulichste jenes von Achill und der Schildkröte ist. Die Frage, welche dieses aufwirft, ist ob in einer endlichen Zeitmenge unendlich viele Ereignisse geschehen können; die Konstruktion des Paradoxons dient einzig und allein dazu, die unendliche Zahl der Ereignisse, die zwischen dem Beginn des Wettlaufs und der Einholung der Schildkröte geschehen müssen, anschaulich zu machen. Die scheinbare Paradoxie entsteht dadurch, dass in einer naiven Sichtweise eine unendliche Anzahl an Ereignissen eine unendliche Zeitmenge impliziert. Naiv ist diese deshalb, weil die bloße Anzahl an Ereignissen kein sinnvolles Maß für die Menge an Änderung darstellt, da dabei nicht berücksichtigt wird, wie stark sich die einzelnen Ereignisse untereinander unterscheiden. Tatsächlich lässt sich im Fall von Achill und der Schildkröte die Änderung der Wirklichkeit sogar einigermaßen objektiv quantifizieren, und zwar anhand der Änderung ihrer Positionen auf der Rennbahn. Die von Zenon konstruierten Ereignisse des Erreichens der jeweils vorigen Position der Schildkröte durch Achill werden gemäß diesem Kriterium in der Tat immer ähnlicher. Die zwischen diesen Ereignissen vor sich gehenden Änderungen der Positionen lassen sich in der Form einer geometrischen Reihe aufsummieren und ergeben insgesamt einen endlichen Wert, im Einklang mit der intuitiven Auffassung, dass Achill die Schildkröte offensichtlich in endlicher Zeit überholt.
Das Zenonsche Paradoxon lässt sich also verhältnismäßig leicht auflösen. Wir wollen deshalb hier eine verschärfte Version dieses berühmten Paradoxons vorschlagen, welche sich als weit tiefgründiger darstellt. Achill stürmt an der Schildkröte vorbei und erreicht in kurzer Zeit die Ziellinie. Gelangweilt über einen derart einfachen Sieg, beschließt er umzudrehen und wieder zurück zum Start zu laufen, aber mit einer doppelt so großen Geschwindigkeit wie zuvor. Dort angelangt, dreht er wieder um und läuft zum Ziel, wobei er erneut seine Geschwindigkeit verdoppelt. Fortan läuft er immer weiter zwischen Start und Ziel hin und her und verdoppelt bei jedem Lauf im Vergleich zum vorigen seine Geschwindigkeit. Die Frage ist nun: Angenommen, dass die Schildkröte bis zum Ziel mehr als doppelt so lange braucht wie Achill für seinen ersten Lauf, wird sie die Ziellinie erreichen können? Und wird Achill nach dem Wettlauf in den trojanischen Krieg ziehen? Wie im Fall des ursprünglichen Paradoxons lässt sich leicht anhand der geometrischen Reihe ersehen, dass naiv betrachtet die Zeitspanne, welche Achill für seine unendlich vielen Läufe benötigt, endlich ist, und zwar das Doppelte der Dauer seines ersten Laufs beträgt; auch ist, sofern er beschließt, zu dem Zeitpunkt, da das Doppelte der Zeit für seinen ersten Lauf vergangen ist, am Start zu sein und dann die Rennbahn zu verlassen, Achills Position zu jedem Zeitpunkt wohldefiniert; sodass nichts dagegen zu sprechen scheint, dass die Schildkröte über die Ziellinie krabbelt und Achill nach Troja fährt. Und doch hat Achill jedes Mal, wenn er am Start oder Ziel anlangt, noch unendlich viele Läufe vor sich, was es wiederum als fraglich erscheinen lässt, dass er jemals nach Troja wird aufbrechen können. Bei diesem Szenario handelt es sich um eine echte Verschärfung des Zenonschen Paradoxons insofern, als die unendlich vielen Ereignisse, die in einer endlichen (oder aber eben nicht endlichen Zeitspanne) geschehen, hier nicht untereinander immer ähnlicher werden: Mit jedem Lauf Achills ändert sich seine Position um die gleiche Menge, nämlich um den Abstand zwischen Start und Ziel. Der Rückgriff auf das obige Argument ist darum nicht möglich.
Eine Möglichkeit, das Paradoxon dennoch aufzulösen, beruht auf dem oben eingeführten Konzept des Zeitempfindens. Damit der Wettlauf wirklich sein kann, muss er offensichtlich vom Ich betrachtet werden, welches somit in einem neben der Rennbahn stehenden Wesen seinen Sitz haben muss. Das Ich besitzt gemäß der empirischen Realität ein Zeitempfinden im Gemüte, welches ein von allen Vorgängen der Außenwelt nicht nur unabhängiges, sondern diesen auch vorrangiges Zeitmaß darstellt. Diese Vorrangigkeit erlaubt es, dem gesamten Wettlauf eine endliche Zeitmenge zuzuordnen, obwohl in dessen Verlauf Achill unendlich oft zwischen Start und Ziel hin und her läuft. Man kann dann argumentieren, dass das Bewusstsein des Ichs aufgrund seines eigenen Zeitempfindens die immer schnellere Bewegung Achills immer weniger wahrnehmen kann; die Änderung bleibt also endlich.
Was aber, wenn ein solches Zeitempfinden, dessen Existenz schließlich nur empirisch erkannt wird und deshalb nicht für die gesamte metaphysische Menge garantiert ist, in der Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist? Achills Bewegung hinsichtlich der Bewertung der Gesamtänderung des Wirklichen also mit allen anderen Vorgängen gleichberechtigt ist? Da das Verhältnis zwischen Achills Geschwindigkeit und derjenigen sämtlicher anderen Vorgänge, etwa der Geschwindigkeit der Schildkröte, beliebig groß wird und in der Tat divergiert, strebt die Änderungsmenge aller nicht-achillschen Bestandteile des Wirklichen während eines seiner Läufe vom Start zum Ziel oder umgekehrt gegen null. Das aber heißt, dass ab einem bestimmten Punkt alle Änderung außer der Änderung der Position Achills überhaupt vernachlässigt werden kann; diese somit allein die Gesamtänderung des Wirklichen bestimmt und das Zeitmaß schlechthin darstellt. Daraus folgt, dass jedem Lauf Achills die gleiche Zeitmenge zugeordnet werden muss, er für die Gesamtheit seiner Läufe also unendlich lange braucht. Dann aber erhält die eingangs gestellte Frage, ob die Schildkröte die Ziellinie erreichen wird, einen ganz anderen Charakter: Nämlich ob es möglich ist, dass noch etwas Weiteres geschieht, nachdem zuvor eine Ewigkeit abgelaufen ist. Diese Frage aber zu beantworten wollen wir hier nicht einmal den Versuch machen. Für den Metaphysiker, welcher vom allgemeinen Begriff der Änderung ausgeht und für den der Begriff der Zeitmenge ohnehin ein sekundäres, aus der Gestalt der metaphysischen Menge sich ableitendes, überdies nicht gänzlich wohldefiniertes Konzept darstellt, spricht zwar nichts prinzipiell dagegen; er könnte sogar sich anschicken, zwei verschiedene Arten zu unterscheiden, wie ein Satz wie „Ereignis A tritt niemals ein“ zu verstehen sei: Entweder in dem Sinne, dass zwischen dem Jetzt und A eine unendliche Zeitspanne liegt, oder aber dass A in der zukünftigen metaphysischen Menge nicht vorhanden ist. Der Anschauung und der Intuition aber ist eine Ewigkeit, nach der noch etwas geschieht, ein Unding, welches das Vorstellungsvermögen des Verstandes sprengt. Deshalb bringt uns die Frage in Aporie, und wir wollen sie nun verlassen.
Einer eingehenderen Kritik müssen wir aber noch das Phänomen der Erinnerung und der Antizipation an sich unterwerfen, welche in gewisser Hinsicht die halbmetaphysische Weltsicht überhaupt erst konstituieren; schließlich sind sie es allein, die Auskunft zu geben scheinen über die zum Jetzt im Vor- beziehungsweise Nach-Verhältnis stehenden Wirklichkeitseinheiten. Zwar haben wir bisher Erinnerung und Antizipation stets als Zwillingsformel verwendet; doch besteht in Wahrheit eine beträchtliche Asymmetrie zwischen beiden, sowohl in Hinsicht auf die Kenntnis, welche sie bereitstellen, als auch die Form, in welcher sie im Bewusstsein auftreten.
Die Erinnerung lässt sich unterteilen in eine Erinnerung im engeren und im weiteren Sinne. Erstere ist dasjenige, was man im allgemeinen Sprachgebrauch unter dem Begriff versteht: Ein intuitives Wissen im Bewusstsein, dass ein bestimmtes Ereignis in der Vergangenheit geschah. Erinnerungen im weiteren Sinne sind solche Kenntnisse über vergangene Ereignisse, die erst durch logischen Schluss aus den Verhältnissen der Außenwelt oder Erinnerungen im engeren Sinne sowie empirisch erkannten Regeln, welchen die Wirklichkeit folgt, sich ergeben. Ohne Erinnerungen im engeren Sinne könnten solche im weiteren Sinne nicht bestehen, denn die dafür nötige Kenntnis der Regelmäßigkeiten im Verhalten des Wirklichen kann offensichtlich nur in einer von dieser Kenntnis unabhängigen Weise, eben durch das unmittelbare und intuitive Gewisssein über die Vergangenheit, welches die Erinnerung im engeren Sinne bietet, erlangt werden.
Die Erinnerung im engeren Sinne ergibt für gewöhnlich ein nur recht lückenhaftes Bild der Vergangenheit: Das dem Jetzt zunächst liegende Vergangene ist meist noch gut abgedeckt, was gemeinsam mit dem Zeitempfinden für das Gefühl eines kontinuierlichen Zeitflusses sorgt; unter den länger vergangenen Ereignissen finden hingegen in der Regel nur diejenigen Eingang in die Erinnerung, die sich in irgendeiner Weise vor den anderen auszeichnen; je näher sie zur Geburt liegen, desto spärlicher sind sie gesät und versiegen irgendwann gänzlich. Die Erinnerungen im weiteren Sinne hingegen folgen keinem solchen allgemeinen Gesetz, sondern was sich von der Vergangenheit rekonstruieren lässt, hängt von den konkreten Verhältnissen im Wirklichen ab und ergibt ein bald detailreicheres, bald lückenhafteres Bild.
Was das zukünftig Wirkliche betrifft, so gibt es darüber keine intuitive Gewissheit von der Art der Erinnerungen im engeren Sinne im Bewusstsein, sondern die Antizipationen bestehen letztlich immer aus einem logischen Schließen aus dem Zustand des Wirklichen einerseits und den allgemeinen, aus der Erinnerung erkannten Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit andererseits auf die Zukunft; auch wenn dieses Schließen gerade in Bezug auf die nächste Zukunft oft derart schnell und unterbewusst abläuft, dass die Antizipationen Erinnerungen im engeren Sinne, nur eben auf die Zukunft bezogen, ähneln können. Anders als die Erinnerungen sind die Antizipationen immer und intrinsisch mit Unsicherheit behaftet. Dies hat im Wesentlichen drei Gründe: Zum einen müssen die aus der Vergangenheit erkannten Gesetzmäßigkeiten mittels des Induktionsschlusses auf die Zukunft übertragen werden, obwohl nicht garantiert ist, dass sie in Bezug auf diese die gleiche Gültigkeit wie auf jene besitzen; und selbst wenn dies der Fall ist, lassen sich nur schwer sämtliche Gesetzmäßigkeiten exakt aus der Vergangenheit erfassen. Zum anderen ist die Anwendung der Gesetzmäßigkeiten in vielen Fällen derart kompliziert, dass sie praktisch unmöglich ist; zudem könnten mehrere mögliche Gestalten der Zukunft mit den Gesetzmäßigkeiten vereinbar sein. Drittens aber finden wir im Bewusstsein ein ganz und gar sonderbares und bemerkenswertes Phänomen vor, welches man allgemein den freien Willen nennt: das Gefühl, dass das Ich durch freie Entscheidungen auf den Inhalt der zukünftigen Wirklichkeitseinheiten Einfluss nehmen kann; ein Begriff, der in der metaphysischen Sichtweise so sinnlos, wie er für die Intuition offensichtlich ist. Diese Freiheit ganz besonders ist es, welche zu der Unsicherheit beiträgt, die den Antizipationen grundsätzlich innewohnt.
Erinnerungen und Antizipationen bieten also ein zwar durchaus reichhaltiges, aber dennoch überaus unvollständiges Bild von Vergangenheit und Zukunft. Ihre fundamentalen Begrenzungen, über die sie in der solipsistischen Sichtweise – welche die halbmetaphysische Weltsicht nicht aufgibt – nicht hinauskönnen, und welche zugleich die Punkte darstellen, an denen die halbmetaphysische Weltsicht zusammenbricht, sind die Geburt einerseits und der Tod andererseits. Ob und wenn ja welche Wirklichkeit vor der Geburt existierte und nach dem Tode existieren wird, lässt sich durch keine Extrapolation der Welt aus dem jetzigen Wirklichen erhalten. In gewisser Hinsicht lassen es die Gesetzmäßigkeiten unserer Wirklichkeit als nicht unplausibel erscheinen, dass Geburt und Tod mit den beiden metaphysischen Nichtsen gleichzusetzen sind; aber genauso gut kann es sein, dass das Ich vor der Geburt anderswo seinen Sitz hatte oder nach dem Tode haben wird. Die Frage nach dem Zustand des Ichs vor der Geburt ist irrelevant, da er vergangen ist; der Tod hingegen stellt die halbmetaphysische Weltsicht und unser gewohntes Dasein radikal in Frage und ist der Kulminationspunkt der Rätselhaftigkeit unserer Existenz.
Wir haben nun die Zeit und die Änderung, auf welche wir erstere zurückgeführt haben, in ihren Eigenschaften so eingehend, wie es möglich war, untersucht und die Konsequenzen dieser Eigenschaften in verschiedener Hinsicht betrachtet. Allein, nicht nur bleibt uns die letztgültige Kenntnis der Gestalt von Vergangenheit und Zukunft, und damit die Form der zeitlichen Ordnung überhaupt, versagt; sondern schon das eigentliche Wesen von Änderung und Zeit selbst ist uns ganz unbegreiflich. Im täglichen Leben mögen sie uns als das Natürlichste überhaupt erscheinen; doch je länger man darüber nachdenkt, desto unfasslicher und enigmatischer wird das stete Fortschreiten der Wirklichkeit von einem Augenblick zum anderen, das Spannungsverhältnis zwischen dem Vorhandensein eines Augenblicks in der metaphysischen Menge und seinem tatsächlichen Wirklichsein im Jetzt, welches Anlass gibt zu grenzenloser Verwunderung. Oder ist all das gar eine Täuschung, welche die Form des Wirklichen erzeugt, und es gibt gar keine Änderung, das heißt die metaphysische Menge enthält nur ein Element? Es scheint, dass wir an dieser Stelle enden müssen. So weit es überhaupt nur möglich war zu gehen, sind wir gegangen; weiter kommen wir nicht mehr, so sehr wir uns auch mühten. Die Zeit aber bleibt der Gegenstand immerwährenden aporetischen Staunens.